Kommentar |
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Heutzutage scheinen Jubiläen und Gedenktage allgegenwärtig: Runde Geburtstage, Ehe- und Betriebsjubiläen, Stadt- und Universitätsjubiläen, Todestage bekannter Persönlichkeiten ebenso wie die Jahrestage von Vereins- und Unternehmensgründungen oder die „Wiederkehr” einschneidender Ereignisse wie Kriege, Friedensschlüsse, Katastrophen oder Erfindungen. Jubiläen von Institutionen, Personen oder Ereignissen füllen jedes Jahr den Kalender. Vor allem die öffentliche Fest- und Erinnerungskultur ist ohne Jubiläen kaum denkbar und auch die Medien orientieren sich in ihrer Arbeit an diesen „runden Zahlen”. Dies gilt nicht zuletzt auch für Kulturbetrieb und Tourismus. Das Erinnern in bestimmten Zeitabständen ist enorm populär, gilt als normal und wird selten hinsichtlich seiner Historizität, seiner geschichtlichen Gewordenheit, hinterfragt.
Bei genauem Hinsehen wird jedoch deutlich, dass die Jubiläumsflut vor allem ein Ergebnis des 19. Jahrhunderts ist, deren multiple Wurzeln mindestens bis ins Spätmittelalter zurückgehen. Dabei ist die Entstehung der Jubiläumskultur aufs engste verbunden mit einer neuen Zeitkultur, die langsam von einer jahreszeitli-chen und auf außerordentliche Ereignisse konzentrierten Orientierung im Lebenslauf und einer im wesentlichen heilsgeschichtlich geprägten Geschichtsauffassung abging. Stattdessen bedeutet die moderne, sich mathematisch exakt nach dem Kalender und der Uhr richtende Zeitauffassung eine neuartige Verklammerung von Vergangenheit und Zukunft, auch über die (Erinnerung in der) Gegenwart, die den menschlichen Gestaltungsspielraum betont. Nach Winfried Müller ist es die Funktion des historischen Jubiläums, aus dem Gesamtkomplex der überlieferten Geschichte einen jeweils individuellen Geschehensablauf als „Eigengeschichte” herauszupräparieren. Über die Inszenierung wird Traditionsbewusstsein und damit Identität hergestellt. Für ihn ist das historische Jubiläum ein „institutioneller Mechanismus, der kulturelle Überlieferung präsentiert und damit tradiert.” Leitideen werden sichtbar gemacht und ihre Wichtigkeit für die Zukunft unterstrichen. Aleida Assmann hat Jubiläen als „Erinnerungsorte in der Zeit” bezeichnet. Nicht die Vergangenheit steht also im Mittelpunkt des Interesses, sondern die Bedeutung der Vergangenheit für Gegenwart und Zukunft.
Die Feier von Jubiläen ist dabei häufig von der Kombination verschiedener Erinnerungsstrategien und -medien geprägt. Festakte unterschiedlichen Zuschnitts werden oft begleitet von der Einweihung von Bauten, von Denkmalsetzungen, Gedenkpublikationen und -tagungen sowie der Thematisierung des historischen Ereignisses in Literatur und Film.
Jubiläen und Gedenktage haben eine solch zentrale Präsenz in der Öffentlichkeit, dass es mitunter scheint, als würde Historisches vorwiegend auf diesem Weg vermittelt. In diesem Zusammenhang wird auch immer wieder kritisch von einer jubiläumsfixierten Gedenk- und Geschichtskultur gesprochen. Doch Jahrestage und historische Jubiläen stehen auch aus anderen Gründen in der Kritik. Verengt nicht die Konzentration auf heroische Ereignisse, oft in Verbindung mit „großen Männern” und Gewalt unser Geschichtsbewusstsein, unsere Erinnerungskultur(en) zu sehr? Wie können wir bisher marginalisierten Gruppen und Themen stärker Raum geben?
Wir wollen in diesem Seminar unterschiedliche Jubiläen und Gedenktage betrachten. Dabei ist einerseits nach Anlässen und Inhalten der Erinnerung, andererseits nach Ritualen und Symbolisierungen, nach Formen der Inszenierung zu fragen. Darüber hinaus aber soll es auch um die Zeitkonstruktion des Jubiläums als solche gehen. Wie hat sich heute Selbstverständliches in der geschichtlichen Zeit verändert und entwickelt? Welche Bedürfnisse bestanden in bestimmten Epochen, wie verhielten sich dazu die jeweiligen Inszenierungstechniken? Welche Arten von Jubiläen entwickelten sich dabei im Laufe der Zeit oder wann wurde das Private „jubiläumsfähig”? Nicht zuletzt wollen wir uns auch mit aktuellen Kritikpunkten und diskutierten Optionen für eine angemessene Aktualisierung der Gedenkkultur auseinandersetzen.
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Literatur |
Einführende Literatur: Winfried Müller u. a. (Hrsg.): Das historische Jubiläum. Genese, Ordnungsleis-tung und Inszenierungsgeschichte eines institutionellen Mechanismus, Münster 2004. Paul Münch (Hrsg.): Jubiläum, Jubiläum … Zur Geschichte öffentlicher und privater Erinnerung, Essen 2005. Jörg Koch: Dass Du nicht vergessest der Geschichte. Staatliche Gedenk- und Feiertage in Deutschland von 1871 bis heute, Darmstadt 2020. Franz Eybl u. a. (Hrsg.): Jubiläum. Literatur- und kulturwissenschaftliche Annäherungen, Göttingen/Wien 2018. Martin Sabrow (Hrsg.): Historische Jubiläen, Leipzig 2015. Christine Gunderman u. a. (Hrsg.): Historische Jubiläen. Zwischen historischer Identitätsstiftung und geschichts-kultureller Reflexion, Berlin u. a. 2022. Johannes Burkhardt (Hrsg.): Krieg und Frieden in der historischen Gedächtniskultur. Studien zur friedenspolitischen Bedeutung historischer Argumente und Jubiläen von der Antike bis in die Ge-genwart, München 2000. Etienne François/Uwe Puschner (Hrsg.): Erinne-rungstage. Wendepunkte der Geschichte von der Antike bis zur Gegenwart, München 2010. Eckhart Conze/Thomas Nicklas (Hrsg.): Tage deutscher Ge-schichte. Von der Reformation zur Wiedervereinigung, München 2004. Lothar Gall (Hrsg.): Das Jahrtausend im Spiegel der Jahrhundertwenden, Berlin 1999. Veit Damm: Selbstrepräsentation und Imagebildung. Jubiläumsinszenierungen deutscher Banken und Versicherungen im 19. und frühen 20. Jahrhundert, Leipzig 2007. Wolfgang Flügel: Konfession und Jubiläum. Zur Institutionalisie-rung der lutherischen Gedenkkultur in Sachsen 1617-1830, Leipzig 2005. Joep Leerssen/Ann Rigney (Hrsg.): Commemorating Writers in Nineteenth-Century Europe. Nation-building and Centenary Fever, Basingstoke 2014. Catrin B. Kollmann: Historische Jubiläen als kollektive Identitätskonstruktion. Ein Pla-nungs- und Analyseraster. Überprüft am Beispiel der historischen Jubiläen zur Schlacht bei Höchstädt vom 13. August 1704, Stuttgart 2014. Thomas Schmidt: Kalender und Gedächtnis. Erinnern im Rhythmus der Zeit, Göttingen 2000. Aleida Assmann: Ist die Zeit aus den Fugen? Aufstieg und Fall des Zeitregimes der Moderne, München 2013. Sonderheft: Aus Politik und Zeitgeschichte 70/33-34 (2020): Jahrestage, Gedenktage, Jubiläen. Wilfried Speitkamp: Identität durch Erbe? Historische Jubiläen und Jahrestage in der Erinnerungskultur, Weimar 2017: https://e-pub.uni-weimar.de/opus4/frontdoor/index/index/ docId/ 3646. Marko Demantowsky: Vom Jubiläum zur Jubiläumitis, in: Public History Weekly 11 (2014), DOI:dx.doi.org/10.1515/phw-2014-1682. Martin Sabrow: Zeitgeschichte als Jubiläumsreigen, in: Merkur 69/789 (2015), S. 43-54. Jörg Arnold u. a.: Anniversaries, in: German History 32/1 (2014), S. 79–100. |