Kommentar |
Die zwei apokryphen frühchristlichen Texte, die sich der Autorität des Jüngers (Didymos Judas) Thomas bedienen, könnten unterschiedlicher nicht sein. Einmal geht es um Erzählungen über den kleinen Jesus im Alter von fünf bis zwölf Jahren. Diese Geschichten füllten offensichtlich eine Lücke, die die kanonisch gewordenen Evangelien in der Biographie Jesu gelassen hatten, und erfreuten sich großer Beliebtheit in weiten Kreisen. Das zeigt die breite Überlieferung des sogenannten „Kindheitsevangeliums“ in verschiedenen Versionen, Sprachen und über Antike und Mittelalter bis in die Neuzeit hinein (vgl. etwa die „Christuslegenden“ Selma Lagerlöfs). Das ganz anders geartete Evangeliums nach Thomas ist vollständig dagegen nur in einer einzigen koptischen Fassung erhalten. Diese (1945 in der Nähe des ägyptischen Ortes Nag Hammadi gefundene) Version erlaubte es dann, drei bereits seit dem Ende des 19. Jahrhunderts bekannte griechische Papyrus-Fragmente ebenfalls diesem Text zuzuordnen. Bei P.Oxy 655 wird diese Zugehörigkeit in der Forschung allerdings immer wieder auch kontrovers diskutiert. Inhaltlich handelt es sich beim Thomasevangelium um ein Spruchevangelium, das „verborgene Worte, die der lebendige Jesus sprach“ (vgl. Incipit), bietet. Heiß diskutiert ist in der Forschung seit Bekanntwerden des Textes, ob und in welchem Umfang das Thomasevangelium alte Jesustraditionen überliefert und ob es auch dort, wo es Parallelen zu Stoffen aus den kanonisch gewordenen Evangelien präsentiert, vielleicht sogar eine ältere Version bewahrt hat.
Es gibt also vieles zu entdecken und zu diskutieren. Wer darauf Lust hat und außerdem seine griechische Sprachfähigkeit lebendig erhalten möchte, ist herzlich willkommen.
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Literatur |
Aasgaard, Reidar, The Childhood of Jesus. Decoding the Apocryphal Infancy Gospel of Thomas, Eugene, Or. 2009; Burke, Tony, De infantia Iesv evangelivm Thomae (CChr.SA 17), Turnhout 2010; Markschies, Christoph; Schröter, Jens, Antike christliche Apokryphen in deutscher Übersetzung, 7. Aufl., Tübingen 2012; Plisch, Uwe-Karsten, Das Thomasevangelium. Originaltext mit Kommentar, Stuttgart 2007; (Textfassungen zur Übersetzung und weitere Literatur werden außerdem in der Übung zur Verfügung gestellt) |