Kommentar |
Das Seminar wird beim Befund ansetzen, dass entsprechend der nachrangigen Stellung, die das Fortbestehen atomarer Waffenarsenale im öffentlichen Bewusstsein zumindest Europas innehatte, Theoriebildung zum Problem der Atomwaffen in den letzten Jahrzehnten nur rar stattgefunden hat. Mit Wladimir Putins Drohungen seit dem Beginn des Angriffs auf die Ukraine im Februar 2022 ist die nukleare Bedrohung jedoch erneut zu einem der akutesten Probleme der internationalen Politik geworden. Im Seminar wollen wir uns wichtigen, seit den Bombenabwürfen auf Hiroshima und Nagasaki entstandenen Texten aus der politischen Philosophie und Theorie sowie den Internationalen Beziehungen, aber auch Schriften von Friedensaktivist*innen und Schriftsteller*innen zuwenden, um uns mit den Eigenheiten dieser Waffe zu befassen, die als Verkörperung dessen gesehen werden kann, was Carl von Clausewitz lange vor ihrer Erfindung als den „absoluten Krieg” bezeichnete.
Dies soll in zwei Teilen erfolgen. Im ersten Block werden wir uns mit theoretischen Konzeptualisierungen einer mit der Atombombe arbeitenden Politik zuwenden. Die Atombombe hat die Eigenheit, als Mittel der Drohung durchaus effektiv sein zu können, als eingesetztes Kriegsmittel aber mit hoher Wahrscheinlichkeit selbstdestruktiv zu wirken. Über spieltheoretische Konzeptualisierungen dieser Politik der Drohung hinaus (Stichwort „Chicken Game”) werden wir uns mit Überlegungen über die Führbarkeit von Atomkriegen aus der Ära des Kalten Kriegs beschäftigen (Herman Kahn, Henry Kissinger) und die Atombombe im Lichte der klassischen Kriegstheorie Carl von Clausewitz‘ deuten. Im zweiten Block werden wir uns mit unterschiedlichen, vielfach gegenläufigen moralischen Bewertungen der Atombombe auseinandersetzen; von der Diskussion um die Legitimität ihres einzigen kriegerischen Einsatzes in der Geschichte über Argumente für und wider ihre hegende Wirkung insbesondere im Kalten Krieg hin zur heute drängenden Frage des Risikos einer nuklearen Eskalation im Widerstand gegen den Überfall durch eine Atommacht. Es wird auch die Frage gestellt werden, wie die Atombombe als moralisches und politisches Symptom zu deuten ist; ein entmenschlichendes technisches Denken, das Opfer nur aufrechnet, ohne sie sehen zu wollen, ein Hang zur Apokalyptik, die Entfernung schließlich von den Bedürfnissen auch der eigenen Bevölkerung – und damit der Demokratie – scheinen Voraussetzungen zu sein für eine Politik, die mit der Atomwaffe als letztem Mittel zum Zweck arbeitet. |
Literatur |
Anders, Günther: Die atomare Drohung. Radikale Überlegungen zum atomaren Zeitalter. München 2003.
Blanchot, Maurice: „Die Apokalypse enttäuscht.” In: Alexander Garcia Düttmann / Marcus Quent (Hrsg.): Die Apokalypse enttäuscht. Zürich 2023, 15-26.
Henrich, Dieter: Ethik zum nuklearen Frieden. Frankfurt am Main 1990.
Kahn, Herman: Eskalation. Die Politik mit der Vernichtungsspirale. Berlin 1966.
Kissinger, Henry A. Nuclear Weapons and Foreign Policy. New York 1969. |