Kommentar |
Ausgangspunkt unserer Überlegungen im Seminar ist es, dass die meisten Öffentlichkeitstheorien ohne den Rekurs auf die Kategorie „Klasse” und Klassentheorien ohne die Thematisierung von Öffentlichkeit auskommen. Demgegenüber wollen wir aber diese Verbindung konzeptionell-theoretisch und auch analytisch stärken.
Dies ist wichtig, weil Öffentlichkeiten Orte sind, an denen teils konfliktreiche Erfahrungen, die unter kapitalistischen Bedingungen (z.B. im Betrieb, in der Freizeit, als Staatsbürger*innen usw.) machen artikuliert, geteilt, geprägt, interpretiert werden. Die Entstehung von Klassen, der Übergang von latenten sozio-strukturellen zu manifesten Klasseninteressen benötigt neben der Auseinandersetzung mit anderen Klassen auch einer vereinheitlichenden Praxis der „Herstellung der Kommunikationen” (MEW 3: 53). Erfahrungen können klassenbewusst oder nicht-klassenbewusst, emanzipatorisch oder restriktiv organisiert werden, wobei beides nicht notwendig zusammenfällt (z.B., wenn „Klassenbewusstsein” auf Kosten anderer soziale Ungleichheiten gestärkt wird).
Um solche Dynamiken zu verstehen, braucht es ein Verständnis dafür, wie verschiedene Formen von Öffentlichkeit (und Gegenöffentlichkeit) im Zusammenspiel funktionieren und wie sich antagonistische gesellschaftliche Verhältnisse auf die Institutionalisierung unterschiedlicher Öffentlichkeiten auswirken. Dabei ist es wichtig, dass Öffentlichkeiten nicht nur eine kulturpolitische Vermittlungsfunktion haben, indem sie Erfahrungen organisieren, sondern sie besitzen auch eine eigene politische Ökonomie: Kommunikationsarbeit, verfügbaren Kommunikationsmittel sowie deren Verteilung müssen berücksichtigt werden, denn dies begrenzt oder ermöglicht den Spielraum für die Organisation von Erfahrungen.
Direkt oder indirekt klassen-sensible Öffentlichkeitstheorien finden sich u.a. bei Jürgen Habermas, Basil Bernstein, Oskar Negt und Alexander Kluge, Gayatri Chakravorty Spivak, Nancy Fraser und im Ansatz der kritischen politischen Ökonomie der Medien und der Kommunikation. Öffentlichkeits-sensible Klassentheorien finden sich z.B. im Anschluss an Antonio Gramsci, insbesondere in den britischen Cultural Studies, etwa bei E.P. Thompson oder Stuart Hall; aber auch bei Axel Honneth.
Im Seminar wollen wir zunächst solche Perspektiven diskutieren und prüfen, was sie uns über den Zusammenhang von Öffentlichkeit und Klasse bzw. die Organisation von Erfahrungen im Kapitalismus verraten und diese Erkenntnisse dann für das Verständnis einzelner Fälle, wie z.B. den Aufstieg des Rechtspopulismus, sozialer Medien oder sozial-ökologischer Transformationsbewegungen fruchtbar machen.
Literatur zur Einführung:
Sevignani, Sebastian. 2020. „Klassenbildung im digitalen Strukturwandel der Öffentlichkeit”. Das Argument. Zeitschrift für Philosophie und Sozialwissenschaften 335: 220–40.
Negt, Oskar. 1975. „Thesen zum Begriff der Öffentlichkeit”. In Politik und Ökonomie - autonome Handlungsmöglichkeiten des politischen Systems: Tagung der Deutschen Vereinigung für politische Wissenschaft in Hamburg, Herbst 1973, herausgegeben von Wolf-Dieter Narr, 461–66. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. https://doi.org/10.1007/978-3-322-88629-3_22. |