Kommentar |
Hunger ist mehr als ein biologischer Zustand. Er ist auch ein Indikator für Ungleichheit, ein Machtinstrument und ein Kulturkonstrukt, das uns verrät, wer in einer Gesellschaft Chance und Anrecht auf (Über)Leben hatte und wer nicht. Dieses existenzielle Prinzip prägte besonders die Geschichte der Sowjetunion. Kein moderner Staat durchlebte, moderierte, und kreierte so viele, so gravierende Hungerkatastrophen. Von den gewaltsamen Getreiderequirierungen der Bolschewiki im Russischen Bürgerkrieg, über die Zwangskollektivierung bis zu den alltäglichen Entbehrungen im Zweiten Weltkrieg beeinflusste die Frage der Nahrungssicherheit das Kalkül politischer Entscheidungsträger und das Erleben sowjetischer Bürger. Auf Grundlage übersetzter Quellen diskutiert das Seminar, wie Hunger als Problem und zugleich als Instrument politischen Handelns die Geschichte der frühen Sowjetunion prägte, und welche gesellschaftlichen Folgen daraus erwuchsen – für damalige und nachfolgende Generationen.
Einführungsliteratur: Alfred Eisfeld/Guido Hausmann/Dietmar Neutatz (Hrsg.): Hungersnöte in Russland und der Sowjetunion, 1891-1947. Regionale, ethnische und konfessionelle Aspekte. Essen 2017; Anne Applebaum: Roter Hunger: Stalins Krieg gegen die Ukraine. München 2019; George Liber: Total Wars and the Making of Modern Ukraine, 1914-1954. Toronto/ Buffalo 2016; J. Arch Getty: New Sources and Old Narratives, in: Contemporary European History 27,3 (2018), S. 450–455; Robert Kindler: Stalins Nomaden. Herrschaft und Hunger in Kasachstan. Hamburg 2014. Wendy Z. Goldman/Donald A. Filtzer (Hrsg.): Hunger and War. Food Provisioning in the Soviet Union during World War II. Bloomington 2015. |