Kommentar |
Im August 2012 schreibt Tobias Becker im Kulturbeiheft des Spiegel, unter dem Titel "Auf die Länge kommt es an":
"Twitter ist [...] die anregendste Aphorismensammlung unserer Zeit. Ein Aphorismus [...] ist kurz, konzise, rhetorisch markant, nichtfiktional und steht für sich allein [...]. Ein Genre der Gegensätze: knapp gefasst, aber weit gedacht, pointiert formuliert, aber metaphorisch offen, sehr subjektiv auf den Begriff gebracht, aber mit Anspruch auf Allgemeingültigkeit. [...] Gut möglich, dass Schnitzler, Schopenhauer und Pascal heute twittern würden."
Mit seiner These, dass Twitter unter anderem auch ein Medium sei, um die "verstaubte Altherrengattung" des Aphorismus wieder "hip" zu machen, führt Becker uns vom Smartphone des 21. Jahrhunderts in den literarischen Salon der "grandes dames" von Paris, und zwar in die Zeit, als der Aphorismus in den Handbüchlein und Maximensammlungen der Französischen Moralisten seine Hochphase erreichte: das Frankreich des 17. Jahrhunderts.
Die Welt der Salons im klassischen Jahrhundert unter Louis XIV. waren - neben Versailles - der Umschlagplatz der literarisch versierten höfischen Gesellschaft und somit der Nährboden der Kunst des Aphorismus. Hier beobachteten die großen Meister der Moralistik die Gesellschaft und schrieben ihre Beobachtungen in kurzen, prägnanten Aufzeichnungen nieder. Die gesammelten Aufzeichnungen La Rochefoucaulds, La Bruyères, der Madame de Sablé, Pascals oder Saint-Évremonds gehören gleichzeitig zum rhetorischen Fundus, aus dem sich der "honnête homme" für seine geistreichen Konversationen bedienen kann. Im 18. Jahrhundert findet sich moralistisches Gedankengut inzwischen bei zahlreichen Autoren. So hat neben den zentralen Moralisten Vauvenargues, Chamfort und Rivarol auch Montesquieu moralistische Notizen gesammelt, und die moralistische Methode der Menschenbeobachtung hält Einzug in die unterschiedlichsten literarischen Gattungen.
Ausgehend von einem kurzen Rückblick auf die antiken Vorbilder und die europäischen Vorläufer der Moralistik, allen voran Epiktet, Montaigne und Gracián, wird sich das Seminar vor allem mit den großen Französischen Moralisten des 17. & 18. Jahrhunderts beschäftigen, aber auch Ausblicke geben auf die von diesen beeinflusste "europäische Moralistik" vom 19. Jahrhundert (Schopenhauer, Nietzsche) bis heute, und die Aphoristik und Moralistik des klassischen Jahrhunderts auf ihre Zeitlosigkeit und Alltagstauglichkeit für die Gegenwart hin prüfen. |