Das menschliche Leben mit seinen Gefährdungen und Brüchen, aber auch mit seinen Möglichkeiten und Sehnsüchten wird seit der Antike durch Metaphern aus der Seefahrt veranschaulicht. Die 'navigatio vitae' ist eine in vielen Kulturen verankerte mythische Vorstellung, die sich auf die "Odyssee", aber auch auf biblische Prätexte, angefangen mit der Sintflut, zurückführen lässt. Vor allem über letztere wird sie in die russische Literatur eingeführt (vgl. etwa Lomonosovs Poem "Petr Velikij" oder Trediakovskijs Psalmen-Nachdichtungen im 18. Jahrhundert).
Ein entscheidender Paradigmenwechsel im Hinblick auf die Topoi der 'Lebensreise' und des 'Lebensschiffes' findet in der Romantik statt: Das Anlangen am rettenden Ufer nach überstandener Seefahrt ist keineswegs mehr sicher, denn das Meer wird nun zuallererst als Ort des möglichen, ja wahrscheinlichen Schiffbruchs und Untergangs erlebt. Hierbei sind zwei grundsätzliche Varianten denkbar: zum einen die imaginierte Vorstellung des Schiffbruchs bei der Anschauung des Meeres und zum anderen das unmittelbare Erleben der Seefahrt mit ihren Gefährdungen und der beängstigenden Möglichkeit, selbst Schiffbruch zu erleiden (vgl. z.B. Lermontovs "Parus" bzw. Puskins "Pogaslo dnevnoe svetilo...”). Gerade die zweite Variante indessen impliziert den Geborgenheitsverlust, das Geworfensein in die Welt, die Orientierungslosigkeit des lyrischen Subjekts als Grunderfahrung des Menschenbildes der Moderne.
Neben dem Meer bildet sich in der russischen Literatur des 19. Jahrhunderts zunehmend die Steppe als weitere Erscheinungsform der 'unendlichen Landschaft' heraus: Mickiewiczs "Krimsonette" erscheinen 1826 in Russland und werden sofort intensiv rezipiert. Vor allem im Realismus wird die Fahrt durch die Steppe in ähnlicher Weise wie jene über das Meer zur Allegorie für die Lebensreise (z.B. Gogol's "Mertvye dusi" oder Cechovs "Step'"). Zahlreiche Autoren im Umkreis des Silbernen Zeitalters nehmen die 'navigatio vitae' wieder auf, darunter Fet, Bunin und Achmatova, wobei auch deren jeweiliges Übersetzungswerk (aus Mickiewicz bzw. Leopardi) Beachtung verdient.
Die Veranstaltung zeichnet den Topos der 'Lebensreise' im Hinblick auf seine spezifischen Ausprägungen und Veränderungen innerhalb der russischen Literatur des 18., 19. und frühen 20. Jahrhunderts nach. |