Kommentar |
In der Alltagsgeschichte, wie Alf Lüdtke sie entwickelt hat, ging es ihm unter anderem darum, die Bedürfnisse der historischen Subjekte nicht zu instrumentalisieren oder zu objektivieren und zu subsumieren, sondern diese Bedürfnisse wahr- und ernst zu nehmen. Der Begriff „Eigensinn”, der primär mit dem Werk Alf Lüdtkes verbunden wird, ist mit Bezug auf ebensolche Bedürfnisse entwickelt. So betonte Lüdtke in „Lohn, Pausen, Neckerereien: Eigensinn und Politik bei Fabrikarbeitern in Deutschland um 1900”, eine Studie zu Maschinenbauarbeitern und Drehern in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts: „Eigensinn zeigte viele Ausdrucksformen: Herumgehen, Sprechen, momentanes Tagträumen, vornehmlich aber im wechselseitigen körperlichen Kontakt und Neckereien – kurz, Eigensinn war ein ‚Bei-sich-selbst-sein‘ und ein ‚Mit-anderen-sein‘.” Damit sei Eigensinn klar unterschieden von der „Verfolgung der eigenen Interessen” oder auch von der „strategischen Optimierung der Effizienz des eigenen Verhaltens”, während die Grenzen zum kalkulierten Widerstand fließend seien. Als entscheidend für Eigensinn als Kategorie bezeichnet Lüdtke in Anlehnung an Hegel und Marx die Möglichkeit, „‘bei sich selbst‘ und ‚für sich selbst‘ zu sein”. Damit enthält der Begriff des Eigensinns eine philosophisch-anthropologische Dimension.
Was die Inspirationsquellen für den Begriff des Eigensinns betrifft, dienten Alf Lüdtke die deutsche Sprachwissenschaft und Philosophie des 18. und 19. Jahrhunderts als explizite Bezugspunkte für den Begriff „Eigen-Sinn” (oder auch „Eigensinn”). Bezugspunkte zu Konzepten in der deutschen Soziologie oder Philosophie seiner Zeit bleiben dagegen vage. So fehlt eine direkte Auseinandersetzung mit parallelen Begriffen im Kontext anderer, größerer Theorieperspektiven in der Bundesrepublik der sechziger, siebziger und achtziger Jahre. Zu denken wäre hier etwa an Theodor W. Adornos Begriff des Nicht-Identischen. Allerdings finden sich an konzeptionell zentralen Stellen Verweise auf die Dialektik der Aufklärung Max Horkheimers und Adornos sowie auf wissenschaftstheoretische und geschichtsphilosophische Überlegungen im Werk von Jürgen Habermas. Diese Hinweise und Zitate können als Belege für entsprechende Einflüsse und Rezeptionen gelten. Sie sind von Alf Lüdtke allerdings nicht entwickelt und ausgeführt worden. An dieser Stelle setzt das Oberseminar an.
Im Seminar werden wir uns zunächst mit dem Begriff „Eigensinn” auseinandersetzen, wie Alf Lüdtke ihn entwickelt und verwendet hat. Sodann werden wir den Begriff kontextualisieren, und zwar sowohl in Hinblick auf die Texte um die Wende zum 19. Jahrhundert, auf die Alf Lüdtke selbst verwiesen hat, als auch in Hinblick auf zeitgenössische Theorieperspektiven. In dieser vergleichend-kontrastierenden Lektüre wird es uns zum Beispiel darum gehen, die jeweiligen Ähnlichkeiten und Unterschiede, Potentiale und Grenzen der jeweiligen Begrifflichkeiten – generell sowie für die Verwendung in der Geschichtswissenschaft – herauszuarbeiten.
Einführungsliteratur: Alf Lüdtke / Hans Medick, „Geschichte – für wen? Grenzen und Notwendigkeit des Reformismus in der westdeutschen Geschichtswissenschaft”, in: Belinda Davis, Thomas Lindenberger und Michael Wildt (Hg.). Alltag, Erfahrung, Eigensinn. Historisch-anthropologische Erkundungen. Festschrift für Alf Lüdtke zum 65. Geburtstag. Frankfurt a.M.: Campus 2008, S. 43-58; Alf Lüdtke, „Lohn, Pausen, Neckerereien: Eigensinn und Politik bei Fabrikarbeitern in Deutschland um 1900”, in: ders., Eigen-Sinn. Fabrikalltag, Arbeitererfahrung und Poli |