Kommentar |
Spätestens mit der Einführung der sogenannten Schuldenbremse, den milliardenschweren Corona-Hilfspaketen und der Einrichtung eines „Sondervermögens“ für Militärausgaben ist die Frage der Verschuldung zum gesellschaftlichen Thema geworden. Doch schon länger gilt das lange 20. Jahrhundert als ein Zeitalter zunehmender Verschuldung, obwohl Schulden – wie David Graeber in einem vielgelesenen Werk vor einigen Jahren betont hat – keineswegs ein neues Phänomen sind. Seit den beiden Weltkriegen haben sowohl die Staatsverschuldung als auch private Kreditaufnahmen neue qualitative wie quantitative Dimensionen erreicht, verstärkt durch die Finanzkrisen der letzten Jahrzehnte. Das „verschuldete Selbst“ hat als eine Figur der Zeitgeschichte, welche vermeintlich die Verwerfungen des Kapitalismus und einer „neoliberalen“ Gegenwart verkörpert, daher in jüngeren Forschungen Aufmerksamkeit gefunden.
Im Seminar werden wir uns einerseits anhand von Forschungstexten mit verschiedenen Dimensionen der öffentlichen und privaten Schuldengeschichte der neuesten Zeit beschäftigen und andererseits einen empirischen Schwerpunkt auf die Verarbeitungen dieses Themas in Ego-Dokumenten, Literatur und Medien legen. Diesen Teil der Veranstaltung werden wir u.a. in Kooperation mit dem Tagebucharchiv in Emmendingen durchführen. Dabei wird es besonders darum gehen, wie die Belastung durch Kredite oder andere Schuldformen von den Zeitgenoss:innen jeweils wahrgenommen, verarbeitet und legitimiert wurde.
Literatur: David Graeber, Schulden. Die ersten 5000 Jahre, Neuaufl. Stuttgart 2022; Thomas Macho (Hg.), Bonds. Schuld, Schulden und andere Verbindlichkeiten, Berlin 2014; Silke Meyer, Das verschuldete Selbst. Narrativer Umgang mit Privatinsolvenz, Frankfurt a.M./New York 2017; Hanno Beck/Aloys Prinz, Staatsverschuldung. Ursachen, Folgen, Auswege, Bonn 2012; Rüdiger Graf/Janosch Steuwer (Hg.), Selbstreflexionen und Weltdeutungen. Tagebücher in der Geschichte und der Geschichtsschreibung des 20. Jahrhunderts, Göttingen 2015. |