Kommentar |
Gesellschaftstheorien haben sich seit ihrer Entstehung um die Begründung eines genuin ‚sozialen‘ Wirklichkeits- und Gegenstandsbereichs bemüht und sich vor diesem Hintergrund zentral auch mit dem Natur-Kultur-Verhältnis auseinandersetzen müssen. Die für dieses Verhältnis konstitutive Dualität des Menschen zwischen ‚homo sapiens‘ und ‚zoon politicon‘ macht sichtbar, dass das Wesen der Gesellschaft im Grunde nicht vor und außerhalb der menschlichen Existenzweise bestimmt werden kann – und dieses Problem schließt ganz dezidiert Aspekte der Körperlichkeit mit ein.
Liest man die Geschichte der Gesellschaft vor diesem Hintergrund als Entwicklungsprozess, in dessen Verlauf der Mensch durch Beherrschung der Natur – auch der eigenen – sukzessive an Autonomie gewinnt, erscheint der Körper als Schnittstelle zu einem irrationalen ‚Anderen‘, dessen Einhegung durch Vernunft die Vergesellschaftung und damit letztlich auch moderne Individualität erst möglich macht (siehe z.B. die Analysen von Norbert Elias). Deutet man diese ‚große Erzählung‘ hingegen (ideologie-)kritisch als Selbstbeschreibung eines primär ökonomisch funktionierenden, den Menschen wie die Natur insgesamt verdinglichenden und objektivierenden Gesellschaftssystems (z.B. Frankfurter Schule), kommen Zweifel hieran auf und der Körper erscheint nun unter Umständen als Zone des Widerstands und in seiner Affekt- und Triebhaftigkeit als Quelle der emanzipatorischen Subversion (z.B. ‚utopischer Körper‘ bei Michel Foucault).
Im Seminar soll ausgehend von der Feststellung, dass solche Polarisierungen – wie immer – unterkomplex bleiben, zum einen der Versuch unternommen werden, Spuren des Körpers von klassischen Texten bis zur Gegenwart der Gesellschaftstheorie nachzuverfolgen. Die dabei gewonnenen Einsichten dienen dazu, thematisch scheinbar konvergierende Analysen des ‚vergesellschafteten Körpers‘ in der Gegenwartsdebatte ('Body turn') zu systematisieren, ihre Positionen zu unterscheiden und blinde Flecken sichtbar zu machen. Zum anderen soll es darum gehen, gesellschaftstheoretisch fundierte Positionierungen zu aktuell einflussreichen Körperlichkeits-Topoi im Alltagsdiskurs (z.B.: neuerliche Entdeckung der ‚Stimme des Körpers‘, 'Achtsamkeit' etc.) entwickeln zu können.
Dementsprechend besteht das Seminar aus zwei Teilen. Im ersten Teil werden durch die Lektüre ausgewählter Basis-Texte von der Klassik bis zur Gegenwart (von u.a. Karl Marx bis Judith Butler) die grundlegenden Konturen der gesellschaftstheoretischen Behandlung des (sozialen) Körpers entfaltet. Im zweiten Teil des Seminars sollen die dabei erlangten Grundbegriffe und Konzepte anhand ausgewählter Praxis- und Konfliktfelder (u.a.: Affekte und Gefühle, Geschlechterverhältnisse, Krankheit & Gesundheit) sowie auf der Grundlage neuerer Publikationen angewendet und weiterentwickelt werden. Wichtig für beide Teile des Seminars ist es, dass der Fokus auf einem gesellschaftstheoretischen Analyseanspruch liegen wird, indem verschiedene Phänomene sozialer Körperlichkeit daraufhin betrachtet werden, ob sich an ihnen gesellschaftliche Strukturmerkmale zeigen (z.B. Optimierung in der neoliberalen Leistungsgesellschaft, Körper und Klassenstruktur, Geschlechterordnung und Schönheitsideale usw.).
Literatur: Robert Gugutzer, Gabriele Klein, Michael Meuser (2017): Handbuch Körpersoziologie. Band 1: Grundbegriffe und theoretische Perspektiven. Wiesbaden. Online https://link.springer.com/book/10.1007/978-3-658-33298-3 |