Institutionen moderner Gesellschaften setzen auf vielfältige Weise individualisierte und ‚autonom‘ entscheidungsfähige Handlungssubjekte voraus. Dieser Zusammenhang ist, während über Gestalt, Ausmaß und soziale Differenzen der darin implizierten Autonomievorstellungen durchaus gestritten wird, in der gesellschaftstheoretischen Debatte weithin anerkannt.
Erst seit vergleichsweise kurzer Zeit haben allerdings kritische Gesellschaftsanalysen individuelle psychische Leidenserfahrungen verstärkt als Überlastungsfolge eben dieser Beziehung diagnostiziert:
Insbesondere ‚Burnout‘, Depression und Erschöpfung erscheinen hier als neue Folgen sozialer Überforderung und übermäßiger Inanspruchnahme des autonomen Selbst – und zugleich als Ausdruck von gesellschaftlichen ‚Pathologien‘. Der damit thematisierte Problemzusammenhang fordert soziologisches und gesellschaftstheoretisches Denken in mindestens dreifacher Hinsicht heraus:
Mit der Verbindung von Individualisierung (bzw. ‚Subjektivierung‘), psychischem Leiden und gesellschaftlichem Wandel knüpft die Diagnose 1) inhaltlich wie erkenntnistheoretisch an eine Soziologie an, die sich schon bei Georg Simmel findet, die aber in der zweiten Hälfte des 20 Jahrhunderts als Soziologie zunehmend in den Hintergrund getreten war. Im Seminar soll daher zum einen gefragt werden: Was spricht dafür, diesen Faden wieder aufzunehmen?
Wenn es zutrifft, dass das handlungs- und entscheidungsfähige Subjekt die unabdingbare Voraussetzung des Funktionierens vieler zentraler Institutionen der Gegenwartsgesellschaft bildet, stellt sich 2) die nicht minder relevante Frage, ob aus der Krise der Subjekte im Umkehrschluss die ‚Krise der Gesellschaft‘ folgt.
Schließlich – und diese Frage wäre an jede Diagnose, die sich auf ‚das‘ Subjekt bezieht, zu adressieren – müsste betrachtet werden, ob und inwiefern ein solches Denken 3) soziale Ungleichheit und Differenz in Gegenwartsgesellschaften angemessen in die Analyse einbeziehen kann.
Im Seminar werden die genannten Aspekte anhand mehrerer Autor/innen und ihrer thematisch einschlägigen Gegenwartsdiagnosen exemplarisch und vergleichend diskutiert (u.a. mit Texten von Alain Ehrenberg, Sighard Neckel & Greta Wagner, Hartmut Rosa, Byung-Chul Han) und gegen Ende der Veranstaltung mit Bezug auf aktuelle Forschungsarbeiten in einen empirischen Kontext gestellt.
Vorbereitende Literaturempfehlung:
Alain Ehrenberg (2000): Die Müdigkeit man selbst zu sein. In: Carl Hegemann (Hg.): Endstation. Sehnsucht. Kapitalismus und Depression I. Berlin. 103-139.
Georg Simmel (1903/2006): Die Großstädte und das Geistesleben. Frankfurt a.M. 1. Aufl. 47 S. |