„Neben Walther von der Vogelweide, dem mhd. Lyriker mit der stärksten poetischen Substanz, ist Neidhart der originellste: er bietet die meisten thematischen und formalen Innovationen, die ihm allerdings von einer auf Einsichtigkeit ausgerichteten Forschung überwiegend ›abgesprochen‹ wurden. Wer anders aber als ein poetisches Genie wie Neidhart könnte auf solche bislang unerhörten Neuerungen gekommen sein?” (Günther Schweikle: Minnesang. 2. Aufl. Stuttgart/Weimar: Metzler 1995, S. 91).
Günther Schweikle ordnet Walther von der Vogelweide der vierten Phase des deutschsprachigen Minneangs zu, dem Höhepunkt und dem Beginn seiner Überwindung (vgl. Schweikle 1995, S. 89f.). Der wohl etwas später geborene Neidhart wird der fünften Phase, der ersten Spätphase des Minnesangs, zugeordnet, der auch der sog. ›Gegengesang‹ zugerechnet wird – jene Persiflierung, die die höfische Minnelyrik der Hochphase ›aus den Angeln hebt‹.
Es ist davon auszugehen, dass Neidhart die Lyrik Walthers gekannt hat, inwiefern sie ihn beeinflusst hat, ist unklar. Ausgehend von der Lyrik Neidharts werden inhaltlich-motivische und sprachliche Bezüge oder Gegenentwürfe zu den Liedern Walthers untersucht. Im Vergleich werden sowohl Gemeinsamkeiten als auch eindeutige Unterschiede erkennbar. Die Lieder der beiden Dichter bieten die Möglichkeit, Merkmale des Minnesangs in den unterschiedlichen Phasen herauszuarbeiten und aufeinader zu beziehen. Überraschen wird dabei vielleicht, dass Walther nicht ausschließlich dem ›traditionellen‹ Sang verhaftet ist und Neidhart durchaus auch sanfte Töne anschlagen kann. Wir wollen versuchen, die ›literarischen Profile‹ der beiden Dichter zu schärfen und uns den poetischen Verfahren und sprachlichen Mitteln in ihren Liedern widmen. Zu diesem Zweck werden den Teilnehmenden auch Texte ohne Namen/Autorzuweisung vorgelegt.
Es wird zu klären sein, ob die beiden Dichter als Stellvertreter für eine bestimmte Phase des Minnesangs gelten können oder ob ihnen eine herausgehobene Stellung zukommt.
Das Seminar findet online statt, die aktive Teilnahme wird erwartet und ist die Voraussetzung für die Prüfungszulassung. Die Teilnahme an der zugehörigen Übung von Prof. Haustein ist obligatorisch. Ein Textreader mit ausgewählten Liedern wird digital zur Verfügung gestellt. |