Kommentar |
Neben Hesiods Werken sind Ilias und Odyssee die ältesten griechischen Dichtungen, die auf uns gekommen sind. Sie galten der griechischen wie der römischen Antike als unübertroffene Kunstwerke, in denen zugleich mit dem Ursprung die Vollendung erreicht schien. Der Moderne galten sie lange und gelten sie vielfach noch immer als Ausdruck eines noch naiven, d.h. ursprünglichen, aber auch unentwickelten und unaufgeklärten Welt- und Menschenbildes, dessen Verlust man je nach Standpunkt beklagen oder dessen Überwindung man feiern konnte – nicht selten in einem Zuge.
Heute wird mit guten Gründen allgemein angenommen, dass Ilias und Odyssee nicht Urprung, sondern Abschluss einer langen epischen Tradition darstellen, von der uns die beiden homerischen Epen deshalb erhalten bleiben konnten, weil sie bald nach der Einführung der Alphabetschrift in Griechenland aufgezeichnet wurden. Der Name, den die Tradition mit dem Dichter dieser Großepen verbindet, ist «Homer». Die Konzeption von Homer als einem mündlich komponierenden und vortragenden Sänger geht auf das 18. Jhd. zurück und verbreitete sich im Anschluss an Wolffs Prolegomena (1798); im 20. Jahrhundert wurde sie unabhängig davon von Parry (L’épithète traditionelle dans Homère, 1928) und seinem Schüler Lord (The Singer of Tales, 1960) wiederaufgenommen, nachdem sie dazwischen durch den Streit zwischen Analyse und Unitarismus beinahe in Vergessenheit geraten war. Während nämlich schon in der Antike umstritten war, ob beide Epen von einem und demselben Dichter stammen, ist in der Moderne die in der Antike hochgerühmte einheitliche Komposition beider Epen in einem beinahe 150 Jahre lang andauernden verbissen geführten Grabenkrieg immer wieder bezweifelt und dagegen neu verteidigt worden – einem Grabenkrieg, der das anfangs lebhafte Interesse der gebildeten Öffentlichkeit an der Homerphilologie weitgehend zum Erliegen gebracht hat.
Die Vorlesung in diesem Semester will sich in einem ersten Teil mit den wichtigsten Aspekten der homerischen Frage, also der Frage nach den Entstehungsbedingungen von Ilias und Odyssee, beschäftigen. Der zweite Teil des Semesters soll der Vorstellung von Ilias und Odyssee gewidmet sein, wobei ein besonderes Gewicht auf dem homerischen Welt- und Menschenbild liegen soll. |
Literatur |
Zur Einführung: Joachim Latacz, Homer. Der erste Dichter des Abendlandes, 4. Aufl., Düsseldorf u.a. 2003.
weitere: Joachim Latacz (Hg.), Homer. Tradition und Neuerung (= WdF, 463), Darmstadt 1979; Alfred Heubeck, Die homerische Frage. Ein Bericht über die Forschung der letzten Jahrzehnte (= Erträge der Forschung, 27), Darmstadt 1974; Arbogast Schmitt, Selbständigkeit und Abhängigkeit menschlichen Handelns bei Homer. Hermeneutische Untersuchungen zur Psychologie Homers (= Akademie der Wissenschaften und der Literatur. Abh. der geistes- und sozialwiss. Klasse, Jg. 1990, Bd. 5), Stuttgart 1990. |