Mit seinem Aufsatz "Über Sinn und Bedeutung" führte Gottlob Frege wesentliche Fragestellungen in die moderne Sprachphilosophie ein, ja man kann sagen, dass er mit diesem Text die moderne analytische Philosophie der Sprache überhaupt erst begründet hat: Für (fast) sämtliche sprachlichen Zeichen muss man nämlich, so Freges Grundgedanke, nicht einfach nach der dem Wort zugeordneten Bedeutung fragen; sondern man muss zusätzlich noch den Sinn der Ausdrücke beachten und sorgfältig von ihrer Bedeutung unterscheiden. Es kann daher sinnverschiedene, aber bedeutungsgleiche Wörter geben. Frege gibt als erstes Beispiel die Wörter "Morgenstern" und "Abendstern": beide bezeichnen denselben Planeten, die Venus, und sind daher als bedeutungsgleich anzusehen – sie bezeichnen die Venus aber auf unterschiedliche Weise, oder, wie Frege schreibt, in "unterschiedlichen Gegebenheitsweisen", und daher ist der Sinn beider Ausdrücke verschieden. Die Identität der Bedeutung ist daher mit der Verschiedenheit des Sinnes vereinbar.
Frege möchte danach als Kernthese aufzeigen, dass die Bedeutung eines ganzen Satzes sein Wahrheitswert ist, nämlich der Umstand, dass er wahr, oder dass er falsch ist. Alle wahren Sätze hätten dann dieselbe Bedeutung "das Wahre", und alle falschen Sätze entsprechend die Bedeutung "das Falsche". Der Sinn eines Satzes wäre dann der im Satz ausgedrückte Gedanke.
Frege prüft seine Auffassung im zweiten Teil des Textes anhand verschiedener Arten von Nebensätzen. Dabei entwickelt er eine Theorie der indireken Rede: In indirekter Rede wird nämlich der Gedanke doch wieder die Bedeutung des Satzes. Der Nebensatz in "Kopernikus glaubte, dass alle Planetenbahnen Kreise sind", kann nämlich nicht durch beliebige andere Sätze vom glechen Wahrheitswert (hier: des Falschen) ersetzt werden, sondern nur durch andere Formulierungen desselben Gedankens.
Das wichtigste Mittel der Sprachanalyse ist die Prüfung der "Ersetzbarkeit ohne Änderung des Wahrheitswerts" des Satzes, oder auch der Bedeutung des Eigennamens.
Der Text wird allgemein als der wohl wichtigste Aufsatz der gesamten philosophischen Tradition angesehen. (Alternativkandidaten sind bisweilen Russell's "On Denoting", in dem Russell versucht, eine Alternative zu Freges Vorschlägen zu erarbeiten - und, von ganz anderer Art, Kants Aufsatz "Was ist Aufklärung?")
Das Seminar wird eine schrittweise, sorgfältige Lektüre und Diskussion des Textes vornehmen. Es kann auch als Einführung in die Philosophie der Sprache besucht werden.
Nach derzeitgem Stand (26. September) wird dieses Seminar vermutlich online durchgeführt werden. Es wird dann überwiegend schriftlich durchgeführt, mit wöchentlichen Erläuterungen und zugehörigen Fragen, die ebenfalls wöchentlich zu beantworten sind. Es sind jedoch auch einige (etwa 2 bis 3) Zoom-Sitzungen geplant, die der persönlichen Kommunikation und der Verständigung über den Seminarverlauf dienen sollen.
Themenplan Frege, Über Sinn und Bedeutung: diese Themen werden wir behandeln (nicht alle werden ausführlich drankommen können)
Hinweis: Die Zahlen in Klammern entsprechen den Absätzen des Textes
Geplant ist die Behandlung von Teil I in Woche 1–4, von Teil II in Woche 5–9, von Teil III in Woche 10–12; Woche 13 ist einem Abschluss vorbehalten.
I Sinn und Bedeutung von Eigennamen und von ganzen Sätzen
1 Drei Auffasungen der Identität: a=a und a=b (1)
2 Der Sinn von Eigennamen, und was Eigennamen sind. Freges logischer Begriff des Gegenstandes (2–5)
3 Direkte Rede: Wortbilder; ungerade (indirekte) Rede, mit Worten in ungerader Bedeutung (6, 7)
4 Vorstellungen sind subjektiv, der Sinn aber nicht (Bukephalos; Fernrohrgleichnis) (8–10)
5 Stufen der Verschiedenheit: Vorstellungen (Färbung oder Beleuchtung der Ausdrucksweise), Sinn (Gegebenheitsweise des Gegenstandes), Bedeutung (der Gegenstand slbst) (11–14)
6 Ein idealistischer Einwand: gibt es überhaupt Bedeutungen? (der Mond) (15)
7 Die Bedeutung ganzer Sätze ist nicht sein Gedanke, sondern der Wahrheitswert (Odysseus) (16–18)
8 Wahrheit ist keine Eigenschaft, das Wort „wahr“ hat keinen Inhalt (19)
9 Das Kriterium für Bedeutungsgleichheit: Ersetzbarkeit ohne Änderung des Wahrheitswertes (Leibniz) (20, 21)
II Die logische Analyse der Nebensätze
10 Nebensätze stehen für Dinge (Nennsätze/Nominalsätze: Gedanken sind auch Dinge!), für Eigenschaften (Beisätze, Adjektivsätze), oder Orts- oder Zeitbestimmungen (Adverbsätze) (22, 23)
11 Nebensätze mit „N meinte (oder hoffte), dass…“ (Kopernikus; Wellington) (24–26)
12 Nebensätze mit „N schloss aus A, dass…“ (Kolumbus) (27)
13 N befahl, dass…; Befehle und Bitten (28–31)
14 Nebensätze als Eigennamen von Gedanken, Bitten oder Befehlen; oder als Eigennamen von Personen oder Dingen (Kepler) (31–34, Anfang)
15 Die Voraussetzung, dass die Eigennamen im Satz Bedeutung haben, ist nicht Teil des im Satz ausgedrückten Gedankens: Test durch Verneinung (34, Rest, 37, Anm.)
16 Beisätze (Adjektivsätze) und Adverbsätze enthalten immer etwas Unbestimmtes und drücken daher keinen vollständigen Gedanken aus (35–37)
17 Bedingungssätze bestehen aus zwei unvollständigen Teilen, sie drücken Allgemeinheit aus [Für alle x: wenn f(x), dann g(x)] (38–41)
18 Kritik an der Konzeption des „hypothetischen Urteils“ (38)
19 Nebensätze mit vollständigen Gedanken (Napoleon I, p und q) (42–43)
20 Bedingungssätze ohne Allgemeinheit (wenn p, so q; nicht q oder p) (44)
21 Komplexere Fälle: mehr Gedanken als Sätze (Napoleon II) (47)
22 Aussagen über Meinungen, die Frege für falsch hält (Bebel) (48–49)
23 Aussagen, die einen Grund angeben (Eis und Eisen) (50, 51)
24 Übersicht über die Arten der Nebensätze (53–56)
25 Fazit Freges: Die Bedeutung eines Satzes ist sein Wahrheitswert. Darum kann man in komplexen Satzgefügen Sätze gleichen Wahrheitswertes (und also gleicher Bedeutung) durch einander ersetzen, ohne dass sich der Wahrheitswert (und also die Bedeutung) des gesamten Satzgefüges ändert. Bei verschiedenen Nebensätzen gibt es unterschiedliche Ausnahmen für die Ersetzbarkeit, aber nur deshalb, weil viele Nebensätzen keine selbständige, abgeschlossene Bedeutung haben.
Aussagen der Form a=b sind daher wahr, wenn die Bedeutung von „a“ und von „b“ dieselbe ist; und sie sind informativ, wenn der Sinn, und damit die Gegebenheitsweise von „a“ und von „b“ auf nichtselbstverständliche Weise verschieden ist. Ohne die Unterscheidung von Sinn und Bedeutung wäre dies nicht erklärlich.
(57–58)
III Drei Einwände gegen Freges Auffassung
26 Russell (On Denoting)
Aussagen, in denen von etwas die Rede ist, was es gar nicht gibt (z.B. „Der gegenwärtige König von Frankreich ist kahl“), sind nicht bedeutungslos, sondern falsch. Die Existenz muss nämlich immer mitbehauptet werden.
27 Wittgenstein (Logisch-Philosophische Abhandlung)
Sätze der Form „a=b“ können nur Voraussetzungen über die Bedeutung der Zeichen ausdrücken, aber keine Information enthalten. Die Bedeutungsgleichkheit kann dehalb nicht behauptet werden, weil sie in logisch übersichtlichen Verhältnissen schon vorausgesetzt werden muss.
28 Kripke (Naming and Necessity)
Eigennamen haben gar keinen Sinn, sondern sie sind einfach konventioanelle, starre bezeichnungen für Individuen. Die Eigenschaften, von denen Frege immer spricht, könnten ja auch ganz andere sein – und dann wären die Eigennamen und Personen immer noch dieselben (der „Sinn“ aber ganz verschieden).
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