Kommentar |
Die Tatsache, dass die kritische Theorie ursprünglich auf das vielseitige Wirken Max Horkheimers und Theodor W. Adornos zurückgeht, ist den meisten heute bekannt. Wird sich jedoch heute näher mit kritischer Theorie befasst, so fällt auf, dass ihre theoretische Gestalt viel eher von historisch später wirkenden Autor*innen bestimmt wird. Autor*innen, die durch ihre Bemühungen um eine Aktualisierung kritischer Gesellschaftstheorie zu einer Fortentwicklung des ursprünglichen Programms veranlasst wurden. Diese Fortentwicklung ist in mancherlei Hinsicht als eine deutliche Abkehr von zentralen Einsichten und Fragestellungen der älteren kritischen Theorie zu bewerten. Sie erfolgte jedoch keinesfalls willkürlich. Vielmehr ereignete sie sich in der kritischen Auseinandersetzung mit Motiven und Betrachtungsweisen, die den späteren Autor*innen nicht mehr als das angemessene Gegenstandsbewusstsein einer kritischen Gesellschaftstheorie galten.
Der Sozialtheoretiker Axel Honneth ist hierfür ein prominentes Beispiel. So entwickelte er von Anfang an sein Programm einer kritischen Gesellschaftstheorie mit dem Anspruch das Resultat eines historischen Lernprozesses der kritischen Theorie zu sein. Die zu verschiedenen Zeitpunkten seiner theoretischen Entwicklung geleistete Auseinandersetzung mit Horkheimer und Adorno ging auf diese Weise als konstitutiver Faktor in die theoretische Gestalt seiner gesellschaftstheoretischen Überlegungen ein. Die Beschäftigung mit Honneths Anspruch eine notwendige Fortentwicklung der kritischen Gesellschaftstheorie geleistet zu haben, bietet allein aus diesem Grund einen vielversprechenden Einstieg in Grundlagenfragen der kritischen Gesellschaftstheorie.
Im Seminar werden wir uns daher nach einer Vergewisserung des ursprünglichen Programms der kritischen Theorie zunächst mit Honneths Kritik an Horkheimer und Adorno beschäftigen. Zusammen werden wir nachvollziehen, wie Honneth sein Problembewusstsein durch eine kritische Auseinandersetzung mit dem ursprünglichen Programm der kritischen Theorie gewinnt und hierauf aufbauend die Grundlagen seiner Gesellschaftstheorie entwirft. In einem zweiten Teil werden wir die von Honneth vorgelegte Interpretation sowie die von ihm daraus gezogenen theoretischen Konsequenzen mit einer eigenen Rekonstruktion zentraler Motive und Fragestellungen der kritischen Theorie konfrontieren. Hierfür werden wir uns die Grundlagen und Schlüsselkonzepte der Adorno’schen Gesellschaftstheorie anhand ausgewählter Texte erarbeiten. Das so aufgebaute Spannungsverhältnis zwischen beiden Autoren soll uns als Grundlage für die Seminar-leitende Frage nach der gegenwärtig angebrachten Form kritischer Gesellschaftstheorie dienen. |
Literatur |
Literaturübersicht:
Adorno, Theodor W.: Soziologische Schriften I, Gesammelte Schriften Band 8, hrsg. von Rolf Tiedemann, Suhrkamp, Frankfurt am Main, Erste Auflage 2013, 4. Auflage 2014.
Adorno, Theodor W.: Kulturkritik und Gesellschaft I/II, Gesammelte Schriften Band 10, hrsg. von Rolf Tiedemann, Suhrkamp, Frankfurt am Main, Erste Auflage 2013.
Basaure, Mauro; Reemtsma, Jan Philipp; Willig, Rasmus: Erneuerung der Kritik, Axel Honneth im Gespräch, Campus Verlag, Frankfurt am Main/New York, 2009.
Honneth, Axel: Kritik der Macht, Reflexionsstufen einer kritischen Gesellschaftstheorie, mit einem Nachwort zur Taschenbuchausgabe, Suhrkamp, Frankfurt am Main, 1988.
Honneth, Axel: Das Andere der Gerechtigkeit – Aufsätze zur praktischen Philosophie, Suhrkamp, Frankfurt am Main, 2000.
Honneth Axel: Pathologien der Vernunft, Geschichte und Gegenwart der kritischen Theorie, Suhrkamp, Frankfurt am Main, Erste Auflage 2007, 4. Auflage 2016.
Horkheimer, Max: Traditionelle und kritische Theorie, in: Ders.: Traditionelle und kritische Theorie, Fünf Aufsätze, Fischer Taschenbuch Verlag, 1992, 7. Auflage 2011, S. 205-259.
Horkheimer, Max: Nachtrag, in: Ders.: Traditionelle und kritische Theorie, Fünf Aufsätze, Fischer Taschenbuch Verlag, 1992, 7. Auflage 201, S. 261-269. |