Kommentar |
Morolf […] ging in die Stadt Jerusalem und bat einen alten Juden um Rat. Der war so alt, daß sein Haar weiß war wie Schnee. Auch wallte sein grauer Bart tief hinab bis über den Gürtel. Der Jude hieß Berman. Zu ihm sprach der wackere Ritter: »Berman, gib mir deinen Rat, denn der König will mich nach seiner schönen Gattin suchen lassen.« Berman nahm ihn bei der Hand und führte ihn in ein heimliches Gemach, wo er ihm sogleich raten wollte. Da zog Morolf ein langes Messer hervor und stieß es dem Juden bis ans Heft ins Herz. Morolf, der Vertraute Salmans, zog dem Juden die Haut ab, und zwar oberhalb des Gürtels. Er rieb sie mit Balsam ein und zog sie dann über. (Salman und Morolf, Str. 159.1‒162.3)
Das Mittelalter ist anders. Die Texte, die das Mittelalter hervorbrachte, sind anders. Die Menschen, die diese Texte rezipierten, waren anders: anders als das 21. Jahrhundert, anders als postmoderne Romane, anders als wir Millennials…
Die Andersartigkeit all dessen drückt sich vor allem auch in den Taten von Protagonisten, im Sinne von ›guten‹ Hauptfiguren, sowie deren Bewertung aus. Morolf, der Bruder des biblischen König Salomons, ist eine der übelsten Gestalten, die das deutsche Mittelalter zu bieten hat. Er ermordet Juden, um sie zu häuten, ersäuft Frauen, weil er genug von ihnen hat, er lügt, betrügt, furzt und unterhält gute Beziehungen zu Meerjungfrauen - also übernatürlichen, unchristlichen Wesen. Da er aber der Protagonist ist, scheint das alles kein Problem zu sein...
Lehrziel des Seminars soll sein, anhand des Textes ›Salman und Morolf‹ einen ersten Einblick in germanistisch-mediävistisches Arbeiten zu bieten. Wir wollen uns gemeinsam mit Motiven (etwa dem Schachspielen im Mittelalter), Themen (etwa Heidenkriege) und Schemata (etwa dem Brautwerbungsschema) mediävistischen Erzählens auseinandersetzen und dabei immer auch Ausgriffe auf andere Texte wagen. |