Menschen beurteilen gegenseitig ihre Handlungen, Einstellungen und Praktiken; dies gilt von alltäglichen Interaktionen bis hin zur philosophisch-ethischen Reflexion. Angesichts von Entwicklungen wie der Globalisierung, neuen Regulierungen im öffentlichen Raum und der digitalen Kommunikation haben die Akte des moralischen Beurteilens in ihrer Verbreitung und Vehemenz zugenommen. Dies gilt u.a. in Bezug auf Fragen um die Auswirkungen unseres Verhaltens auf die Umwelt, des sozial und tierethisch verträglichen Konsums, des verantwortungsvollen Zusammenlebens (Bsp. Impf- und Schutzmaßnahmen) oder des Umgangs mit kultureller und gesellschaftlicher Diversität.
Zweifellos erfordern diese Entwicklungen und Themen stets neue moralische Diskussionen und Positionierungen. Doch kann es dabei auch ein „Zuviel der Moral“ werden? Hierfür hat sich der Begriff des Moralismus eingebürgert. Die verschiedenen Formen des Moralismus eint dabei, dass sie als unangebrachte oder überzogene Reaktionen in moralischen Belangen gelten. Nach einer verbreiteten Ansicht werden im alltäglichen Umgang wie im allgemeinen öffentlichen Diskurs zunehmend auf problematische, also moralistische Weise moralische Vorwürfe erhoben. Diese Diagnose wird z.B. durch überzogene Entrüstungsstürme in den sozialen Medien oder moralisierende Kompetenzüberschreitungen in direkten Interaktionen belegt. Dabei ist jedoch der Vorwurf des Moralismus selbst ein moralisches und damit begründungsbedürftiges Urteil.
Was ist unter Moralismus genauer zu verstehen, und was macht Moralismus unter dem jeweiligen Verständnis kritikwürdig? Im Seminar werden wir zunächst die verschiedenen Facetten und Verständnisse des Moralismusbegriffs beleuchten und auf die damit verbundenen Bewertungen eingehen. In einem zweiten Teil werden wir weitere Texte besprechen, die sich mit dem Phänomen und Vorwurf des Moralismus in Bezug auf bestimmte Anwendungsbereiche auseinandersetzen; u.a. in Bezug auf Konsumverhalten, politisch-wirtschaftliche Debatten, Verhalten im öffentlichen Raum und Online-Kommentare. In der gemeinsamen Diskussion sollen sich die Teilnehmenden ihre eigene Meinung über die Zusammenhänge und Abgrenzungen zwischen Moral und Moralismus bilden. |