| Kommentar |
Fortwirkender Antisemitismus ist fortwirkende Barbarei. Diese äußert sich nicht nur als offene Gewalt, in hetzenden Reden und feindlichen Haltungen einzelner oder kollektiver Akteure, sondern verbirgt sich auch in Strukturen der sozialen Praxis sowie des Denkens. In Geschichte und Gegenwart nimmt Antisemitismus verschiedene, immer neue Gestalten an, steht jedoch immer im Widerspruch zu den Idealen sowie Versprechen einer sich aufklärenden Menschheit. Er scheint weder erklärbar zu sein, noch ist er mit bloßen Argumenten - seien diese noch so gut - zu besiegen. Im Antisemitismus offenbaren sich somit Grenzen der Aufklärung im mehrfachen Sinne.
Diese Grenzen thematisieren auch Max Horkheimer und Theodor W. Adornos in "Elemente des Antisemitismus", dem vorletzten Kapitel der Dialektik der Aufklärung (1944/47). Zugleich verweisen sie auf das Geflecht aus politischen, rassistischen, ökonomischen, nationalistischen, religiösen, psychologischen Motiven, aus denen sich der totalitäre Antisemitismus speist. Das Kapitel gilt als häufig unterschätzter Schlüsseltext - einerseits im Denken Horkheimers und Adornos bzw. der Gründergeneration der Frankfurter Schule überhaupt, andererseits der Dialektik der Aufklärung, in der die Verfasser zu erkennen versuchen, "warum die Menschheit, anstatt in einen wahrhaften menschlichen Zustand einzutreten, in eine neue Art von Barbarei versinkt" (DA 16).
Die gemeinsame Erschließung und Diskussion dieses Kapitels wird ein erster Schwerpunkt des Seminars sein. Dabei fragen wir u.a., was sich an d(ies)er kritischen Theorie des Antisemitismus lernen und ob oder wie sich der Antisemitismus philosophisch begreifen lässt. Ausgehend von diesem und auch von weiteren Texten, über deren Auswahl gemeinsam entschieden wird, sollen zudem Fragen nach dem Umgang mit Antisemitismus heute, seiner Omnipräsenz, Wandelbarkeit sowie Irrationalität diskutiert werden. |
| Literatur |
Horkheimer, Max/Adorno, Theodor W. (1944/47): Dialektik der Aufkärung. Philosophische Fragmente. In: Horkheimer, Max (1987): Gesammelte Schriften. Band 5: Dialektik der Aufklärung und Schriften 1940-1950, herausgegeben von Gunzelin Schmid Noerr. Frankfurt am Main 1989.
Adorno, Theodor W. (1962): Zur Bekämpfung des Antisemitismus heute. In: Gesammelte Schriften. Band 20.1. Frankfurt am Main 1997, 360-383.
Weiterführend oder vertiefend:
Horkheimer, Max u.a. (1941): Resarch Project on Anti-Semitism. Idea of a Project. In: Zeitschrift für Sozialforschung/ Studies in Philosophy and Social Science 9, 124-143.
Adorno, Theodor W. (1947): Remarks on The Authoritarian Personality by Adorno, Frenkel-Brunswik, Levinson, Sanford (1948), (dt. Übers.) in: Ziege, Eva-Maria (Hg.): Th. W. Adorno, Bemerkungen zu The Authoritarian Personality und weitere Texte, Berlin 1999, S. 21-70.
Adorno, Theodor W. (1950): Prejudice in the Interview Material. In: Adorno, Theodor W./Frenkel-Brunswik, Else/Levinson, Daniel J./Sanford, R. Nevitt: The Authoritarian Personality. Studies in Prejudice, Bd. 1, herausgegeben von Max Horkheimer und Samuel H. Flowerman. New York, 605–653. |
