Kommentar |
Der Ausdruck „Ideologie” bezeichnet eines der wichtigsten und zugleich umstrittensten Konzepte der Marxschen Theorie. Eine Ursache seiner Mehrdeutigkeit liegt sicherlich darin, dass der mit ihm bezeichnete Sachverhalt bereits bei Marx äußerst komplex und disparat ist. Zu ihm gehören Inhalten und Formen "subjektiven" (z.B. die Überzeugung, eine freie, selbstbestimmte Person zu sein) sowie "kollektiven Bewusstseins" (z.B. religiöse Überzeugungen oder alltägliche Gemeinplätze), wissenschaftliche Theorien (z.B. philosophische, ökonomische etc.) und politische Programme (z.B. liberale, sozialistische Ideen), aber auch alltägliche Lebensvollzüge und Praktiken (z.B. Lohn- oder Sorgearbeit), soziale Institutionen bzw. Apparate (z.B. Schule, Parlament, Gesundheitswesen) oder sogar umfassende historische Vergesellschaftungsformationen (z.B. konkurrenzkapitalistische, fordistische etc.). Marx und auch die an ihn anschließenden ideologiekritischen Theorien gehen zudem davon aus, dass die Erscheinungsweisen des Ideologischen auf spezifische Weise dialektisch sind: Demzufolge stellt etwa ideologisches Wissen (z.B. eine marktliberale Theorie) reale soziale Sachverhalte einerseits auf spezifische Weise verkehrt dar (z.B. werden Logiken des Marktes oder Tausches als naturgegeben angesehen), ist aber andererseits doch in funktionaler Hinsicht so passend, dass es zur Stabilisierung oder Reproduktion gegebener (z.B. kapitalistischer) Verhältnisse beiträgt. Zudem sind Ideologien – so heißt es – sowohl (notwendig) wahr als auch falsch, denn sie dienen zwar der Legitimation falscher (das meint: leiderzeugender, entwürdigender, ausbeuterischer etc.) Verhältnisse, dennoch würde es ohne sie keinen Widerstand gegen diese geben können. Außerdem schließlich wird auch die Kritik an Ideologien auf eine merkwürdige, prima vista widersprüchlich erscheinende Weise dialektisch gedacht: Zumindest ernsthaften Ideologiekritiker:innen ist klar, dass sie selbst niemals ideologiefre sind, sondern inmitten ideologischer Komplexe stehen, die sie zugleich als solche reflektieren und erkennen müssen, sofern sie zur Emanzipation beitragen wollen.
Diese anspruchsvollen Konzepte von Ideologie und Ideologiekritik sowie ihre Anwendungen auf konkrete aktuelle Phänomene (z.B. auf Rassismus, Antisemitismus, Feminismus etc.) werden im Zentrum dieses Seminars stehen. Diskutieren werden wir Beiträge von Philosoph:innen, die Ideologiekritik im Anschluss an Marx als emanzipatorische Gesellschaftskritik verstehen und praktizieren, darunter u.a. Theodor W. Adorno, Nancy Fraser, Rahel Jaeggi, Sally Haslanger, evtl. Frigga Haug, Gayatri Chakravorty Spivak, Silvia Federici. |