Kommentar |
Lev Nikolaevic Tolstoj (1828-1910) kannte den Krieg aus eigener Erfahrung. Ab 1851 diente er im Kaukasus und anschließend im Krimkrieg. Von diesen Erfahrungen berichtet er in seinen frühen Erzählungen aus dem Kaukasus sowie in den „Sevastopol’skie rasskazy“ (Sewastopoler Erzählungen), die 1855 erschienen. Im selben Jahr kehrte er auf das elterliche Gut Jasnaja Poljana zurück, wo er in den 1860er Jahren seinen großen historische Roman „Vojna i mir“ (Krieg und Frieden) schrieb. In diesem Monumentalwerk der Weltliteratur porträtiert Tolstoj die Ära der Napoleonischen Kriege und präsentiert eine eigene Geschichtsphilosophie. Nicht zuletzt aufgrund seiner Kriegserfahrungen und seiner intensiven Beschäftigung mit dem Krieg war Tolstoj ein überzeugter Pazifist. Diese Haltung findet insbesondere in seiner postum veröffentlichten Erzählung zu den Kaukasuskriegen „Hadzi-Murat“ (Hadschi Murat) sowie in seiner „Rede gegen den Krieg“ ihren Ausdruck. So kommt es nicht von ungefähr, dass kürzlich einem Mann, „der das Buch ‚Krieg und Frieden‘ von Leo Tolstoi an der Kreml-Mauer hochhielt, […] 20.000 Rubel (etwa 250 Euro) Strafzahlung“ drohten, wie deutsche Zeitungen berichteten.
In diesem Seminar werden wir uns angesichts der Kriege im Kaukasus in den vergangenen Jahrzehnten und des russischen Angriffs auf die Ukraine vom 24. Februar 2022 mit den Kriegen im Kaukasus und solchen in Europa im 19. Jahrhundert – insbesondere den Napoleonischen Kriegen und dem Krimkrieg – auseinandersetzen, und zwar sowohl aus historischer Perspektive als auch vermittels der literarischen Repräsentationen und philosophischen Reflexionen Lev Tolstojs, dessen „Krieg und Frieden“ im Ruf steht, die Napoleonischen Kriege besser darzustellen als viele historische Werke. Aus diesem Grund werden uns in diesem Seminar auch grundsätzliche Überlegungen zum Verhältnis von Geschichte und Literatur beschäftigen. Darüber hinaus werden wir die Verfilmungen von „Krieg und Frieden“ thematisieren sowie den Film „Kavkazskij plennik“ (Gefangen im Kaukasus) aus dem Jahre 1996, der mit dem Text von Tolstojs Erzählung „Der Gefangene im Kaukasus“ arbeitet und ihn in den damals aktuellen Tschetschenienkrieg überträgt.
Der Roman „Krieg und Frieden“ ist ein umfangreiches Werk. Auch wenn wir es im Seminar lediglich in Ausschnitten besprechen können, ist es wünschenswert, dass Sie den Roman über das Semester hinweg vollständig lesen. Fangen Sie deshalb nach Möglichkeit bereits in den Semesterferien mit der Lektüre an. Russischkenntnisse sind gern willkommen, für die Teilnahme am Seminar aber keine Voraussetzung.
Literatur: Lew Tolstoi, Krieg und Frieden. Übersetzt und kommentiert von Barbara Conrad, 2 Bände, 8. Aufl. München: Carl Hanser Verlag 2018; Lew Tolstoi, Krieg im Kaukasus: Die kaukasische Prosa. Neuübersetzung von Rosemarie Tietze. Suhrkamp, Berlin 2018; Filme: Krieg und Frieden [War and Peace], Regie King Vidor, USA, Italien 1956; Krieg und Frieden [Vojna i mir], Regie Sergej Bondarcuk, UdSSR 1966; Isaiah Berlin, The Hedgehog and the Fox, in: ders., Russian Thinkers, ed. by Henry Hardy and Aileen Kelly. With an Introduction by Aileen Kelly, completely revised and reset edition London: Penguin Books 2008, 24-92; Leo Nikolajevic Tolstoi – „Ich kann nicht schweigen!“ – Gedanken gegen Gewalt und Krieg (2008) Online-Ausstellung. |