Kommentar |
Vor nunmehr mehr als 20 Jahren sprach der US-amerikanische Anthropologe Richard Werbner (1998) von einer „postcolonial memory crisis“ in Afrika, wobei er insbesondere auf die Arten und Weisen des Erinnerns abzielte. Werbner forderte daher, die Bedeutung kollektiver und individueller Erinnerung in der Herausbildung politischer Subjektivität und postkolonialer Transformationsprozesse anzuerkennen. Im europäischen Kontext ist vor allem von einer „postkolonialen Amnesie“ die Rede, die die Bedeutung der kolonialen Vergangenheiten für das postkoloniale Europa ausblendete. Die wachsenden Forderungen nach einer offiziellen Anerkennung kolonialer Verbrechen, einer Rückgabe von geraubten musealen Sammlungsbeständen oder nach Entschädigungszahlungen für koloniale Massenverbrechen rücken die kolonialen Vergangenheiten zunehmend ins öffentliche Interesse. Lässt sich vor diesem Hintergrund von einer erinnerungskulturellen postkolonialen Wende sprechen?
Die Annahme einer „Globalisierung der Erinnerungen“ (Deslaurier 2006), die die transnationalen oder transkulturellen Erinnerungspraxen ins Zentrum rückt, lässt dies vermuten. Die offizielle Formulierung von Entschuldigungen, Schuldeingeständnissen und der Ausdruck von Bedauern sind zu anerkannten Praktiken internationaler Politik geworden. Doch was heißt „postkoloniales Erinnern“ konkret? Im Seminar wollen wir uns mit postkolonialen Erinnerungspolitiken in Europa und Afrika beschäftigen und dabei insbesondere die Verstrickungen, Transfers und Abgrenzungen zwischen den ehemaligen Kolonialisierten und der Kolonialisierenden in den Blick nehmen. Folgenden Fragen soll im Seminar nachgegangen werden: Wie lässt sich postkoloniales Erinnern beschreiben und stehen sie als „counter-memories“ (Foucault 1977; Molden 2016) im Gegensatz zu dominanten nationalstaatlichen Gedächtnisnarrativen? Wie kann eine “Provinzialisierung” (Chakrabarty 2000) oder „Dekolonisierung“ postkolonialen Erinnerns aussehen (Rothberg 2013)?
Literatur: Chakrabarty, Dipesh (2008 [2000]): Provincializing Europe. Postcolonial thought and historical differ-ence. Princeton, N.J.: Princeton Univ. Press.
Deslaurier, Christine; Roger, Aurélie (2006): Mémoires grises. Pratiques politiques du passé colonial entre Europe et Afrique. In: Editions Karthala (Hg.): Politique Africaine (102), S. 5–27.
Rothberg, Michael (2013): Remembering back: Cultural memory, colonial legacies, and Postcolonial Studies. In: Michael Rothberg (Hg.): Huggan, Graham. The Oxford Handbook of Postcolonial Studies: Oxford University Press, S. 359–379. |