Kommentar |
Einer der versiertesten und populärsten Denker unserer Zeit - der israelische Professor Yuval Noah Harari - hat es jüngst auf den Punkt gebracht: Die größten Krisen, denen wir uns aktuell gegenüberstehen, sind nicht auf nationaler Ebene lösbar. Allen voran nennt er die Klimakrise, die Transformationen und Herausforderungen der biotechnischen Revolution und die Gefahren eines Nuklearkrieges, die seit dem russischen Einmarsch in die Ukraine erneut und wirkmächtig ins öffentliche Bewusstsein gerückt sind. Darüber hinaus sind wir in Deutschland und Europa insbesondere im letzten Jahrzehnt zum Schauplatz zweier Krisen geworden, die nicht nur für heftige Kontroversen gesorgt, sondern auch Kooperationsbereitschaft und Solidarität der europäischen Mitgliedsstaaten auf eine harte Probe gestellt haben: seit 2008 die internationale Finanzkrise und spätestens seit 2015 die sogenannte Migrationskrise.
Man muss in der Tat kein Finanz-, Klima-, Migrations- oder Gesundheitsexperte sein, um zu wissen, dass Viren, Geldströme, Verschuldung, CO2-Emmissionen oder fliehende Menschen nicht oder nur sehr schwer und dann auch nur vorübergehend vor staatlichen Grenzen halt machen, dass etwa nationales bzw. lokales Konsum- und Reiseverhalten oder die Entscheidung einzelner Regierungen zu Krieg und Aufrüstung dramatische globale Auswirkungen haben. Modebegriffe wie "global village" oder "glocal" bezeichnen das faktische und gefühlte Zusammenwachsen unserer Weltgemeinschaft.
Für die einen ist dieses Zusammenwachsen mit positiven Erfahrungen von materieller und kultureller Vielfalt und schwindenden (materiellen wie ideellen) Grenzen verbunden. Für viele andere, darunter die immer lauter werdenden rechtspopulistischen Stimmen, für die Donald Trump oder Marine Le Pen repräsentativ sind, sind Mauern, rigide Grenzregime oder die proklamierte Bewahrung der kulturellen bzw. nationalen Einheit und Reinheit die einzige Antwort auf die empfundenen Gefahren dieses Zusammenwachsens. Slogans wie "America First", die südeuropäische Grenzpolitik oder die immer noch nachhallende Rede vom Clash der Zivilisationen sind dafür charakteristisch. Eine faire oder nachhaltig wirksame Antwort auf die gegenwärtigen Krisen bieten sie nicht.
Das skizzierte Dilemma ist Grund genug, um in diesem Seminar die Bedeutung von "Nation" und "Kultur" zu dechiffrieren. Beide Begriffe hängen, wie wir sehen werden, eng miteinander zusammen und verbinden sich mit anderen wie Kolonialismus, Rassismus, "dem Westen" oder "white supremacy". Sie dienen als Bindemasse für die Vorstellung von Zugehörigkeit und Gemeinschaft, sie konturieren Hierarchien und Andersartigkeit, schließen aus und werten ab. Sie entscheiden, plakativ gesprochen, mit über die Wahrnehmung des "Anderen" als Freund oder Feind, als Mitmensch oder Fremder und damit letztlich auch über die einzelstaatliche Außenpolitik oder das Solidarverhalten von Wählergemeinschaften.
Im Seminar werden wir uns Texte der klassischen und neuesten Nationalismus- und Kulturtheoretiker von Benedict Anderson und Yuval Harari bis zu Alladin El Mafaalani anschauen und am Beispiel der oben aufgeführten Krisen erörtern wie Nationalismus, Kulturbegriffe, Rassismus und die Idee des "Westens" in das Verständnis und die Bewältigungsstrategien eben dieser Krisen hineinwirken. |