Kommentar |
Während Briefe heute konventionell und altbacken erscheinen und fast nur noch in formalisiert-distanzierter Weise (z.B. rechtlichen Angelegenheiten) zum Einsatz kommen, stellten sie im ausgehenden 18. Jahrhundert eine subjektive, stark individualisierte „Antikunst“ (Mattenklott) zu sogenannten „Briefstellern“ (=Anleitungen und Muster für Briefe) dar, die strikt vorgaben, was zu welchen Anlässen in welcher Form und mit welchen Worten ausgedrückt werden konnte. Briefschreiber*innen wandten sich bewusst gegen deren feste Regeln für Ausdruck, Form und Sprache und entschieden sich stattdessen für eine freie und individuelle Ausdrucksform. Der Briefroman oder „Roman in Briefen“, wie er zunächst genannt wurde, feierte diese Entwicklung, und Europa feierte ihn. Über England und Frankreich nach Deutschland gelangt, sollte er zu einer der erfolgreichsten literarischen Gattungen des 18. Jahrhunderts und zu einer der wichtigsten Ausdrucksformen der Epoche der Empfindsamkeit werden. Die Literarisierung der Alltagskommunikation führte außerdem zu einer durchgreifenden „Feminisierung“ der literarischen Kultur: Die Literatur hörte auf, „eine Domäne von gelehrten Männern zu sein, die in ausschließlich männlichen Interaktionsgemeinschaften (von Männern und unter Männern) literarisch sozialisiert worden sind.“ (Stiening/Vellusig 2008). Im Seminar beschäftigen wir uns eingehend mit den wohl prominentesten deutschsprachigen Briefromanen des 18. Jahrhunderts: Sophie von La Roches „Geschichte des Fräuleins von Sternheim“ (1771) und Johann Wolfgang Goethes „Die Leiden des jungen Werthers“ (1774). Dabei erproben wir Verfahren der literaturwissenschaftlichen Textanalyse, besprechen Probleme der Editorik, üben den Umgang mit Forschungsliteratur und entwickeln Fragestellungen für eine wissenschaftliche Hausarbeit. |