Kommentar |
Mit der „linguistischen Wende” in den Geistes- und Sozialwissenschaften rückte auch das Verhältnis von Geschichte zu Wissenschaft und Kunst in den Fokus. Sowohl die Geschichtswissenschaft als auch der historische Roman behandeln historische Personen, Ereignisse, Strukturen und Prozesse und bedienen sich dabei historischer Quellen und narrativer Techniken. Gleichwohl gibt es signifikante Unterschiede zwischen der Behandlung, Darstellung und Analyse von Geschichte durch die Geschichtswissenschaft und durch die Literatur. Um so mehr stellt sich die Frage nach der Bedeutung der Narration und narrativer Strukturen für die Geschichtswissenschaft und nach der Relevanz historischer Quellen und Forschungen für literarische Werke, also nach den Parallelen quellengestützter Narration in Historiographie und Literatur sowie nach den Grenzen der Parallelität.
Diese Vorlesung nimmt sich des Themas am Beispiel des historischen Romans in der russischen Literatur an. Um wichtige theoretische Positionen kennen zu lernen, werden wir uns zunächst kritisch ausgewählten klassischen Werken zur Narrativität von Geschichtsschreibung sowie zur Theorie des historischen Romans widmen, beispielsweise Hayden Whites Metahistory. The Historical Imagination in Nineteenth-Century Europe und Georg Lukács „Der historische Roman”. Darauf aufbauend werden wir auch auf neuere Ansätze und Perspektiven zur Narrativität in der Geschichtswissenschaft und zur Geschichte in der Literatur eingehen. Anschließend werden wir uns bekannten historischen und zeithistorischen Romanen der russischen Literatur vom 19. bis zum 21. Jahrhundert sowie ausgewählten Ereignissen widmen, die diese Werke thematisieren, darunter A. S. Puschkins Kapitanskaja docka („Die Hauptmannstochter”), L.N. Tolstojs Vojna i mir („Krieg und Frieden”) und B. L. Pasternaks Doktor Zivago („Doktor Shiwago. Roman”).
Das Format der Veranstaltung ist so gehalten, dass es in jeder Sitzung eine 45-minütige Einführung in Form einer Vorlesung gibt, und in der zweiten Hälfte der Sitzung 45 Minuten zur gemeinsamen Besprechung eines ausgewählten Textes zur Verfügung steht. Sowohl bei den theoretischen Texten als auch bei den historischen Romanen handelt es sich um umfangreiche Werke. Auch wenn wir sie in der Vorlesung lediglich jeweils in Ausschnitten besprechen können, ist es wünschenswert, dass Sie zumindest ein theoretisches Werk und einen Roman über das Semester hinweg vollständig lesen. Fangen Sie deshalb nach Möglichkeit bereits in den Semesterferien mit der Lektüre an. Russischkenntnisse sind gern willkommen, für die Teilnahme an der Vorlesung aber keine Voraussetzung. |
Literatur |
Literatur zur Einführung:
Georg G. Iggers, „Die ‚linguistische Wende‘. Das Ende der Geschichte als Wissenschaft?“, in: ders.: Geschichtswissenschaft im 20. Jahrhundert. Ein kritischer Überblick im internationalen Zusammenhang, Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht Neuausgabe 2007, S. 101-110;
Hayden White, Metahistory. Die historische Einbildungskraft im 19. Jahrhundert in Europa, übersetzt von Hans-Peter Kohlhaas, Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch 2. Aufl. 2015 (engl. Orig. 1973);
Georg Lukács, Der historische Roman (Werke, Bd. 6), Neuwied u.a.: Luchterhand 1965;
Aleksandr Puskin, Die Romane. Die Hauptmannstochter, Der Mohr Peters des Großen, Dubrovskij, übersetzt von Peter Urban, 3. durchgesehene Aufl. Berlin: Friedenauer Presse 1999;
Lew Tolstoi, Krieg und Frieden. Übersetzt und kommentiert von Barbara Conrad, 2 Bände, 8. Aufl. München: Carl Hanser Verlag 2018;
Boris Leonidovic Pasternak, Doktor Shiwago: Roman, übersetzt von Thomas Reschke, Frankfurt am Main: S. Fischer 2014.
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