Kommentar |
Theorien der ‚modernen Gesellschaft‘ beinhalten seit Bestehen der Soziologie Vorstellungen von der Erosion traditionaler Kollektivformen sowie Annahmen zu deren Ablösung durch neue (ökonomische, rechtliche und politische) Integrationsmuster. Wo höhere Effizienz und gesellschaftliche (Re-)Produktionsfähigkeit durch Rationalisierung und Differenzierung erreicht wurden, sind soziale Beziehungsmuster allerdings vielfach formaler geworden. Gleichzeitig eröffnen sich dem freigesetzten Individuum gerade in der Distanz neue Lebens- und Gestaltungsspielräume. Diese ambivalente Ausgangssituation wird in der Gesellschaftstheorie durch Zeitdiagnosen gespiegelt, die sowohl Phänomene der ‚sozialen Kälte‘, der Entfremdung und der Vereinsamung als auch den Zugewinn an Freiheiten zum Gegenstand hatten und haben. Begrifflich erfolgt die theoretische Auseinandersetzung mit ihnen nicht selten auch gegenwärtig unter der Überschrift der Gegenüberstellung von „Gemeinschaft und Gesellschaft“ (Tönnies 1887) oder zumindest ähnlichen begrifflichen Unterscheidungen – und immer wieder wird dabei suggeriert, dass authentische(re) soziale Beziehungsformen gegenüber ihrem ökonomisch überformten gesellschaftlichem ‚Anderen‘ im Laufe des Modernisierungsprozesses verloren gehen. Diese Lesart ist mit Blick auf die politische Geschichte des Gemeinschaftsbegriffes normativ folgenreich und problematisch. Sie ist aber auch deshalb problematisch, weil sich in der Theoriedebatte zeigt, dass der Gemeinschaftsbegriff als Horizont einer kritischen Gesellschafts-Analyse durchaus unscharf ist.
Das Seminar beschäftigt sich ausgehend von einer klassischen Kontroverse über diese Zusammenhänge – namentlich mit Bezug auf Ferdinand Tönnies „Gemeinschaft und Gesellschaft“ (1887) und Helmuth Plessners „Grenzen der Gemeinschaft“ (1924) – mit deren Implikationen und Nachwirkungen in der Gesellschaftstheorie der Gegenwart. Dabei soll zum einen ein tieferes Verständnis für die Probleme erlangt werden, die mit der genannten begrifflichen Gegenüberstellung und anderen analogen Unterscheidungen angesprochen werden. Zum anderen soll am Ende des Seminars auch die Frage beantwortet werden, was gegenwärtig aus einer gesellschaftstheoretischen Perspektive zu neuen Gemeinschaftsideen zu sagen wäre. |