Kommentar |
Konventionelle Theorien wissenschaftlicher Entwicklung sehen, selbst wenn sie wie diejenige Kuhns als soziologisch aufgeschlossen gelten, jeweils einen Hauptstrang wissenschaftlichen Fortschritts vor. Ein neues 'Paradigma' mag sich aus mehr oder weniger transparenten Gründen durchsetzen, es bestimmt dann den weiteren Verlauf der fraglichen Disziplin. Allenfalls räumt man die Sonderfälle ein, dass ein Streit zwischen verschiedenen Grundsatztheorien oder Forschungsweisen länger unentschieden bleibt, weil beiden Seiten entscheidende Argumente oder andere Durchsetzungsmittel fehlen, oder dass ein insgesamt schwach organisiertes Fach wie die Soziologie nicht über 'multiparadigmatische' Zustände hinauskommt. In der realen Wisssenschaftsgeschichte könnte jedoch auch ein anderer Fall bedeutsam sein: Die Konkurrenz zweier oder mehrerer Fachverständnisse, die sich jeweils in bestimmbaren Kontexten etablieren - von denen jedoch nur eines in der maßgeblichen (westlichen, akademischen, globalen) wissenschaftlichen Öffentlichkeit hegemonial wird. Zwei bekanntere Beispiele bilden die Durchsetzung der 'neoklassischen' Ökonomik nach 1945 und die Nicht-Etablierung der Psychoanalyse in der akademischen Psychologie. Im Seminar wollen wir diese Fälle theoretisch einbetten und geschichtlich näher betrachten, um dann wissenschaftstheoretisch und -soziologisch zu fragen, welche Faktoren die fragliche Weichenstellung bestimmt haben: das Muster empirisch hypothesenprüfender Forschung und mathematischer Modellierung, ideologische Bedürfnisse und Rechtfertigungszwänge (in) der westlich-liberalen Gesellschaft, sozialtechnische Anforderungen standardisierten, methodisch objektivierenden und objektivierbaren Vorgehens ...? Je nach Kenntnissen und Interesse können wir auch weitere Beispielfächer hinzuziehen. |
Literatur |
Althusser, Louis: Philosophie und spontane Philosophie der Wissenschaftler (1967), Hamburg 1985
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Backhouse, Roger E.: The Puzzle of Modern Economics. Science or Ideology? Cambridge 2010
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Friedman, Milton: The Methodology of Positive Economics, in: Essays in Positive Economics, Chicago 1966, 3-16 u. 30-43
Keynes, John M., Economic Possibilities for our Grandchildren (1930), in: Essays in. Persuasion, New York 1932, 358-373
Kuhn, Thomas: The Structure of Scientific Revolutions (1962). 3. A., Chicago, London 1996
Lück, Helmut E., u. Susanne Guski-Leinwand: Geschichte der Psychologie Strömungen, Schulen, Entwicklungen. 7., vollst. überarb. A., Stuttgart 2014
Mannheim, Karl: Ideologie und Utopie (1929), Frankfurt a. M. 2015
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Popper, Karl: Logik der Forschung. Zur Erkenntnistheorie der modernen Naturwissenschaft (1935), 11. A., hg. v. H. Keuth, Tübingen 2005
Roelcke, Volker: Rivalisierende ‚Verwissenschaftlichungen des Sozialen‘: Psychiatrie, Psychologie und Psychotherapie im 20. Jahrhundert, in: Ders. u. J. Reulecke (Hg.), Wissenschaften im 20. Jahrhundert: Universitäten in der modernen Wissensgesellschaft, Stuttgart 2008, 131-148 |