„Der Sozialstaat ist aus dem öffentlichen und privaten Leben demokratisch-kapitalistischer Gesellschaften nicht mehr wegzudenken. Geschöpf einer vergangenen gesellschaftlichen Zeit und ihrer ‚sozialen Probleme‘, ist er im Verlauf seiner mittlerweile mehr als hundertjährigen Geschichte zu einem Wesensmerkmal moderner Vergesellschaftung geworden und kann, gemeinsam mit Kapitalismus und Demokratie, als eine ihrer charakteristischen Makrostrukturbildungen gelten.” (Lessenich 2012: 25) Der Sozialstaat stellt, historisch betrachtet, eine Antwort auf die „soziale” oder „Arbeiterfrage” des ausgehenden 19. Jahrhunderts dar. Dabei zielt staatliche Sozialpolitik aber keineswegs nur auf den Ausgleich von Klassengegensätzen ab. Der Sozialstaat stellt vielmehr selbst eine aktive Stratifikationsinstanz kapitalistischer Gesellschaften dar, die soziale Risiken bearbeitet, Lebensläufe und Geschlechterverhältnisse strukturiert und ungleiche Lebenschancen im gesellschaftlichen Wandel sowohl ausgleicht als auch reproduziert und generiert. Gerade diese Komplexität, Wandlungsfähigkeit und Janusköpfigkeit des Sozialstaats – zugleich Ermöglichungsbedingung profitorientierter Akkumulation wie Stachel im Fleisch des Kapitalismus zu sein – machen ihn aus soziologischer Perspektive so interessant.
Im Seminar wollen wir uns dem Phänomen Sozialstaat und Sozialpolitik auf theoretische und empirische Weise nähern. Dabei soll die Auseinandersetzung mit unterschiedlichen theoretischen Ansätzen, Grundlagen zum Verständnis der Herausbildung, Funktion und Wirkungsweise von Sozialpolitik und Sozialstaat liefern. Im Anschluss daran stehen wesentliche Wandlungs- und Umbruchsprozesse, während der sozialstaatlichen Expansion der fordistisch geprägten Nachkriegszeit sowie der Herausbildung eines „aktivierenden Sozialstaats” im Postfordismus seit den 1980er Jahren bis in die Gegenwart, im Fokus. Das Seminar zielt als einführende Veranstaltung darauf ab, den Sozialstaat, die Voraussetzungen und Effekte seiner Politik grundlegend als historisch wandlungsfähige Basisinstitutionen kapitalistischer Gesellschaften soziologisch zu verstehen.
Das Seminar ist als Online-Seminar konzipiert, in dem sich Online-Treffen mit Gruppenarbeitsphasen abwechseln. Zu den Teilnahmevoraussetzungen gehören die eigenverantwortliche Arbeit in Arbeitsgruppen sowie die Abgabe von Arbeitsaufträge. Die Prüfungsleistungen umfassen ausschließlich Hausarbeiten, mündliche Prüfungen können hier nicht absolviert werden.
Ausgewählte Literatur:
Butterwegge, Christoph (2014): Krise und Zukunft des Sozialstaates. 5. Aufl. Wiesbaden: Springer VS.
Lessenich, Stephan (2008): Die Neuerfindung des Sozialen. Der Sozialstaat im flexiblen Kapitalismus. Bielefeld: transcript.
Achinger, Hans (1958): Sozialpolitik als Gesellschaftspolitik. Von der Arbeiterfrage zum Wohlfahrtsstaat. Hamburg: Rowohlt.
Kaufmann, Franz-Xaver (2009): Sozialpolitik und Sozialstaat: Soziologische Analysen. Wiesbaden: VS.
Offe, Claus (2006): Strukturprobleme des kapitalistischen Staates. Aufsätze zur Politischen Soziologie. Frankfurt a.M.: Campus.
Lessenich, Stephan/Ostner, Ilona (Hrsg.) (1998): Welten des Wohlfahrtskapitalismus. Der Sozialstaat in vergleichender Perspektive. Frankfurt a.M.: Campus.
Evers, Adalbert/Heinze, Rolf G. (Hrsg.) (2008): Sozialpolitik. Ökonomisierung und Entgrenzung. Wiesbaden: VS.
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