Kommentar |
„Ich bin für mehr Sex – mehr Schweinereien, keine Tabus. Ich glaube, dass es vom echten Sex, dem Sex, der riecht und schmeckt und schmutzige Geräusche macht, nie genug geben kann” (Charlotte Roche im Spiegel.de-Interview 25.02.2008, https://www.spiegel.de/spiegel/a-537317.html). Charlotte Roche brach mit ihrem Buch ,Feuchtgebiete‘ 2008 viele Tabus – so schilderte sie bislang wenig bekannte Sexualpraktiken, thematisierte immer wieder Geruch und Geschmack von Körperflüssigkeiten und benannte und erläuterte die weiblichen und männlichen Geschlechtsorgane, ihr Aussehen und ihre Funktionen in derber Sprache. Tabus beruhen auf kulturell bedingten sozialen Normen – ihr Bruch oder ihre Verletzung führt bei vielen Menschen zum Gefühl der Scham, der Scheu oder des Ekels. Tabuverletzungen und -brüche sind in der Literatur jedoch keine Erfindung der Neuzeit: Sie haben eine lange Tradition – auch in der vormodernen Litetaur des vermeintlich ,prüden‘ Mittelalters. Von soften, erotischen Anspielungen bis hin zu drastischer Schilderung von Körperlichkeit und Begehren ist in der Dichtung des Hoch- und Spätmittelalter alles zu finden. Diese Literatur wird heute als ,obszön‘ bezeichnet: Das lat. Wort obscenus ist in seinem Ursprung wohl abgeleitet vom lat. caenum, das ,Schmutz‘, ,Schlamm‘, ,Kot, ,Unflat‘ bedeutet und das bezeichnet, was als moralisch ,unanständig‘, weil ,schmutzig‘ (auf den Körper und den Geist bezogen) gilt. Das Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft unterscheidet zwischen verschiedenen Ausprägungen von obszöner Literatur: 1.) Pornographisches, 2.) Skatologisches, 3.) Blasphemisches/Häretisches. Die für das Seminar ausgewählten Texte reichen vom 13. Jh. bis zur Gegenwart mit einem Schwerpunkt auf der Literatur des 15. Jhs., in der sich eine deutliche Verschiebung der sprachlichen ,Schamgrenze‘ erkennen lässt: Genitalien mit Eigenleben, enthemmte oder groteske Sexszenen, derbe Fäkalkomik und Spaß an Exkrementellem – für vieles, über das man eigentlich nicht spricht, findet man im Spätmittelalter Worte: Mal mehr metaphorisch, mal sehr direkt, mal abwertend und misogyn. Die ausgewählten Texte stellen einen Querschnitt durch die Jahrhunderte und durch die literarischen Gattungen des Hoch- und Spätmittelalters dar: Neben Liedern von Walther von der Vogelweide, Neidhart und Oswald von Wolkenstein werden auch kurze epische Texte wie Mären, Schwankerzählungen und Fastnachtspiele analysiert sowie Textauszüge aus dem epischen Lehrgedicht ,Der Ring‘ von Heinrich Wittenwiler. Ein Schwerpunkt des Seminars liegt auf der linguistischen Analyse der obszönen Sprache, ihrer Semantik und oft auch Doppeldeutigkeit: Mit welchen Worten wird über Sexualität und Ausscheidung gesprochen? Wie wird die Beschäftigung mit dem Genital und dem Sexualakt literatrisch ,verpackt‘? Mit diesem Bewusstsein für sexualisierte und enthemmte Sprache soll schließlich auch an morderne obszöne Literatur herangetreten werden: Wo finden wir heute obszöne Texte?
Hinweis: Die Inhalte dieses Seminars sind zum Teil sehr derb und können das eigene Schamgefühl verletzen. Bitte nur anmelden, wenn Sie bereit sind, sich diesen Sonderfälle der mittelalterlichen Literatur inhaltlich und sprachlich zu nähern. Das Seminar wird online stattfinden (über Moodle und Microsoft Teams). Alle Materialien (Textreader usw.) werden digital zur Verfügung gestellt. Erwartet wird eine aktive Mitarbeit im Seminar zur Vorbereitung auf die Prüfung. Die Teilnahme an der Übung von Jennifer Koch im Modul ÄDL II ist obligatorisch. |