Kommentar |
Energie lässt sich physikalisch als die Fähigkeit bezeichnen, Dinge (durch Arbeit, Wärme oder Strahlung) in Bewegung zu setzen. So kann etwa Lageenergie in Bewegungsenergie oder Wärme umgewandelt werden. Beschleunigungsprozesse (und mithin soziale Beschleunigung) sind ohne den Einsatz entsprechender Antriebsenergie beispielsweise nicht zu denken. Nun scheint es offensichtlich, dass Menschen einerseits über physische Energie, andererseits aber auch über psychische Energie verfügen: Um Dinge in Bewegung zu setzen, bedarf es nicht nur physischer Kraft, sondern auch motivationaler Antriebsenergie. Während die Psychologie ansatzweise über einige (allerdings nicht sehr kohärente oder konsensuelle) Konzepte solcher Energie verfügt, gibt es erstaunlicherweise bisher kein etabliertes Konzept sozialer Energie. Die Frage, der das Seminar nachgehen will, lautet: Auf welcher Grundlage lässt sich soziale Energie denken? Verfügen unterschiedliche Gesellschaften über unterschiedliche ‚Soziale Energie‘, um sozialen und kulturellen Wandel voranzutreiben und den Stoffwechselprozess mit der Natur zu intensivieren, wie es Claude Levi Strauss in seiner Unterscheidung heißer und kalter Gesellschaften nahelegt; lässt sich Modernisierung als Steigerung kinetischer Energie verstehen, wie Peter Sloterdijk behauptet? Können unterschiedliche soziale Institutionen und/oder Situationen soziale (Transformations- oder Handlungs-) Energie in unterschiedlichem Maße erzeugen und verteilen, wie Randall Collins argumentiert? Kann man sagen, dass revolutionäre Situationen durch eine Aktivierung sozialer Energie gekennzeichnet sind? Und ist die emotionale und motivationale Energie, die Individuen aufbringen, um ihre psychische, physische und soziale Umwelt zu bearbeiten, eine Persönlichkeitseigenschaft oder eine sozialstrukturelle Größe (Collins)? Gibt es einen Zusammenhang zwischen dem hohen Verbrauch an fossilen Energien und der sozialen Transformationsenergie moderner Gesellschaften (N.G. Roegen)? Gilt für psychische und soziale Energie ebenfalls der Energieerhaltungssatz, so dass soziale, psychische und physikalische Energie ineinander konvertierbar sind? Solchen Fragen will das Seminar, ausgehend von einschlägigen Grundlagentexten aus der Soziologie - etwa von Karl Marx zur Konzeption des Arbeitsvermögens oder von Emile Durkheim zum Konzept kollektiver Efferveszenz – und zum Teil auch aus den angrenzenden Wissenschaften, insbesondere der Psychologie, der Ethnologie und der Ökologie, nachgehen. Ziel ist die gemeinsame Erarbeitung eines Konzepts sozialer Energie – dabei ist das Seminar ergebnisoffen angelegt, wer daran teilnehmen möchte, muss also den Mut haben, sich experimentell auf konzeptuelles Neuland zu begeben. Esoterische Energiekonzepte werden wir dabei allerdings nicht berücksichtigen, wenngleich ein Blick in die Energiekonzepte anderer kultureller Traditionen (etwa auf den altgriechischen Energeia-Begriff) durchaus vorgesehen ist. |