Kommentar |
Soziales Handeln wird von komplexen Wissens- und Regelstrukturen bestimmt, in denen sich kollektive und individuelle Erwartungshorizonte, soziale Vorgaben und subjektiver Handlungssinn wechselseitig bedingen und miteinander verschränken. Der routinierte Vollzug von Alltagsinteraktionen aber auch das Auftreten von Krisen und Konflikten lässt sich vor diesem Hintergrund aus kontextspezifischen Passungs- oder Spannungsverhältnissen zwischen entsprechenden Sinnkonstruktionen der Akteure und ihren ‚Erfahrungsräumen‘ (Bohnsack) verstehen und erklären.
In der Lehrveranstaltung wird dieser Sachverhalt anhand der von Ralf Bohnsack entwickelten dokumentarischen Methode behandelt und deren praktische Anwendung an konkreten empirischen Fällen erprobt. Eine wesentliche Prämisse hierfür ist zum einen, dass das praktische Orientierungswissen des sozialen Alltags vor allem auf der Ebene von habituellen bzw ‚inkorporierten‘ Vorannahmen und Voraussetzungen gefunden und rekonstruiert werden muss. D.h., dass 'Teilnehmende' an sozialen Zusammenhängen vieles wissen, ohne dies jeweils abstrakt reflektieren bzw. in theoretisierter Form kommunizieren zu können. Dieses Vorverständnis in soziologisches Wissen zu überführen, um zu guten Beschreibungen und Erklärungsmodellen zu gelangen, ist ein zentrales Ziel qualitativer Sozialforschung. Zum anderen wir im Kontext der dokumentarischen Methode davon ausgegangen, dass Interaktionspraxen sich oft gerade deshalb auch ‚ohne viele Worte‘ realisieren können, weil das implizite Wissen der Akteure über die Art und Weise etwas zu tun und die Reproduktionsbedingungen und Regeln kollektiver Zusammenhänge (z.B. von Gruppen, Generationen usw.) sich zumeist komplementär ergänzen. Die rekonstruktive Sozialforschung kann daher auch zum Verständnis der Funktionsweise sozialer Ordnung und ihrer Veränderungsbedingungen beitragen. Beide Aspekte und die Anwendung der jeweiligen Prinzipien der dokumentarischen Methode werden in der Veranstaltung mit Blick auf verschiedene Formen der individuellen und kollektiven Selbstoptimierung in spätmodernen Gesellschaften erarbeitet, weil sich in ihnen auf paradigmatische Weise strukturelle ‚Vorgaben‘, subjektive Erwartungen (Hoffnungen, Ängste…) und habituelle Orientierungsmuster verbinden. |