Funktionalistische Gesellschaftstheorien gehen von der Eigengesetzlichkeit und 'Emergenz' sozialer Zusammenhänge aus.
Von ihrer Entstehungsgeschichte her weisen sie hierbei starke Parallelen zu biologischen Theorien des Lebens - inklusive der Vorstellung evolutionärer Entwicklungsprozesse ('Höherentwicklung' durch Differenzierung) - auf, deren Adaption für soziale Sachverhalte allerdings mehrere problematische Implikationen hat:
Zunächst wird das 'Funktionieren' von Gesellschaften unter diesem Blickwinkel nicht in erster Linie an der Frage bemessen, ob und inwiefern menschliche Handlungsziele erreicht, Vorstellungen des guten Zusammenlebens verwirklicht oder 'Fortschritte' in einem stark normativen Sinne dieses Begriffs gemacht werden können. Zentral ist vielmehr der Erhalt bzw. Selbsterhalt von gesellschaftlichen Ganzheiten in einer sich verändernden sozialen Umwelt - Interessen, Ziele und Wertvorstellungen der Individuen treten hierhinter zurück.
Störungen dieses 'Selbsterhalts' von Gesellschaftssystemen wurden in der Klassik des soziologischen Funktionalismus (u.a. bei Emile Durkheim) daher als 'Pathologien' betrachtet und individuelle wie kollektive Praxen danach bewertet, welchen Beitrag sie zum gesellschaftlichen Fortbestand leisten können. Die Theorielandschaft des Funktionalismus hat sich seither gewandelt, seine wesentlichen Elemente sind jedoch bis in aktuellere Ansätze hinein erhalten und einflussreich geblieben und geben Anlass zur kritischen Nachfrage. Für eine zeitdiagnostisch interessierte Gesellschaftstheorie muss insbesondere geklärt werden, welche expliziten oder impliziten normativen Annahmen für das funktionalistische Gesellschaftsmodell bestimmend bzw. mit der Kategorie des 'Funktionierens' verbunden sind:
Was heißt es eigentlich, dass Gesellschaften sich 'selbst' erhalten? Muss dies die Konservierung des Status Quo, d.h der 'funktionierenden' Gesellschaft, bedeuten oder ist dabei nicht vielmehr auch permanenter Wandel vorausgesetzt? Falls letzteres richtig ist: Worin unterscheidet sich eigentlich die 'Krise' des Bestehenden von einer dynamischen gesellschaftlichen Transfomation (Idee des Fortschritts)? Mit anderen Worten: ist nicht sozialer Fortschritt immer wieder und notwendig von der Erosion bzw. 'Störung' bestehender kollektiver Praktiken und Institutionen begleitet gewesen?
Im Seminar sollen Antworten auf diese Fragen gesucht werden. Dabei werden exemplarisch die wichtigsten funktionalstischen Gesellschaftstheorien von der Vergangenheit bis zur Gegenwart zunächst rekonstruiert und im Licht ihrer Kritik diskutiert.
Im zweiten Teil wird dann aufgezeigt, welche Anteile bzw. Spuren funktionalistischer Analysen auch in solchen Ansätzen zu finden sind, die sich selbst eher als Gegenspieler funktionalistischer Theorien verstehen würden. Ziel ist es, sichtbar zu machen, auf welche Funktionsideen eine Soziologie und Gesellschaftstheorie (nicht) verzichten kann, welche daraus abgeleiteten Störungsbegriffe (‚Pathologie‘? ‚Krise‘?) brauchbar sind, um aktuelle gesellschaftliche Problemlagen (ökologische Krise, ökonomische und soziale Krisen) zu durchdringen und wie darüber hinaus in produktiver Weise mit den Grenzen dieses Ansatzes umgegangen werden kann. |