Kommentar |
Aus philosophischer Perspektive wird ‚Zeugenschaft’ seit den 1990er Jahren als ein Phänomen diskutiert, an dem sich die soziale Struktur unseres Wissens zeigt. Einen Großteil unserer Überzeugungen, so lautet ein Grundgedanke, verdanken wir nicht einsamen, monologischen Denkprozessen, sondern kommunikativen Praxen. Unter welchen Bedingungen ist es aber gerechtfertigt, Zeugnisse anderer nicht bloß als Ausdruck individueller Meinungen, sondern als Wissen aufzufassen? Die Frage nach dem epistemischen Status der ‚Worte anderer’ wird v.a. in Ansätzen aus dem Spektrum analytischer Philosophie diskutiert. Demgegenüber rücken französischsprachige Autoren wie Jacques Derrida ‚Zeugenschaft’ in den Zusammenhang von Ereignissen extremer Gewalt und betonen, dass Zeugenschaft als philosophisches Konzept und als politische Praxis nicht nur mit erkenntnistheoretischen Fragen, sondern auch mit ethischen Ansprüchen der Verantwortung und des Glaubens verknüpft ist. Noch enger wird die Verbindung von „Ethik und Episteme” der Zeugenschaft im Spannungsfeld ‚epistemischer Ungerechtigkeit’ gezogen: Wer als Zeugin anerkannt und an Prozessen kollektiver Erfahrungsdeutung beteiligt wird, hängt nicht bloß mit epistemischer Kompetenz und Autorität, sondern damit zusammen, als ‚Wer’ man in einer Gesellschaft wahrgenommen und ob man überhaupt gehört wird – d.h.: mit sozialen Machtverhältnissen.
In das Seminar werden wir mit Texten zu Grundkonflikten der analytischen Diskussion (Jennifer Lackey, Richard Moran) einsteigen. Im Verlauf des Seminars sollen der Zusammenhang von Zeugenschaft und Gewalt sowie Praktiken des ‚silencing’ (Jacques Derrida, Miranda Fricker, José Medina) gemeinsam untersucht und diskutiert werden. Eine übergreifende Frage des Seminars lautet, wie in den verschiedenen Ansätzen die Beziehung zwischen Zeug_innen und Adressati_nnen bestimmt wird: Handelt es sich dabei nur um eine informative Kooperationsgemeinschaft? Welche Rolle spielen Konzepte wie Verantwortung und Vertrauen? Wie können verletzende epistemische Praktiken identifiziert und wie können sie transformiert werden?
Der Kurs kann als inhaltliche Vorbereitung für die Teilnahme am „Jenaer Summer Symposion” zum Thema „The Ethics of knowing” besucht werden, das von Dr. Christine Bratu (München) und Juniorprof. David Löwenstein ausgerichtet wird und vom 30.07.2019 – 01.08.2019 in Jena stattfindet. Weitere Informationen zum Symposion finden sich hier: https://jesyp.jimdo.com/.
Das Seminar steht – unter der Voraussetzung der Bereitschaft zur Lektüre englischsprachiger Texte – allen Interessierten offen. |
Literatur |
Katherine Hawley: Trust, Distrust, and Epistemic Injustice, in: The Routledge Handbook of Epistemic Injustice, hrsg. von Ian James Kidd, José Medina and Gaile Pohlhaus, New York 2017, S. 69-79; Sybille Schmidt: Ethik und Episteme der Zeugenschaft. Zur Kritik einer Wissenspraxis, Bielefeld 2015. |