Kommentar |
Als „Ego-Dokumente” werden mit eigener Hand verfasste Aufzeichnungen zum eigenen Leben bezeichnet, schriftlich, aber auch akustisch oder (audio-)visuell verzeichnete Überlieferungen. Im Schreib- und Aufzeichnungsprozess wird das eigene Erleben manifest gemacht, dabei gedeutet und entworfen – mal fast unmittelbar nach einem Erlebnis oder Widerfahrnis, mal mit großem Zeitabstand zu den Ereignissen, die bezeugt werden.
Als Ego-Dokumente gelten Tagebücher, Briefe oder Reiseberichte, Haushaltsbücher, persönliche Chroniken, Autobiografien und Memoiren, aber auch visuelle Selbstporträts bis hin zu Äußerungen aus dialogischen Begegnungen wie Interviews. Was macht Ego-Dokumente als Quellen für historische Forschung so interessant? Welche Einsichten und Erkenntnisse verspricht ihre Analyse? Und was macht sie gegenwärtig so populär? Im Februar 2024 wurde zum Beispiel in der „Tagesschau” das Tagebuch eines ukrainischen Jungen gezeigt, das er im Frühjahr 2022 während russischer Angriffe auf seine Heimatstadt Mariupol führte. Noch während der terroristischen Hamas-Massaker vom 7. und 8. Oktober 2023 in Israel nutzten Verfolgte ihre Smartphones zur Dokumentation. Und bereits wenige Tage danach führte die USC Shoah Foundation erste Video-Interviews mit Überlebenden – für ihre jüngste bildungspolitische Sammlung „Countering Antisemitism Through Testimony”.
Dieser Fokus auf Ego-Dokumente in unserer Kriegsgegenwart ist historisch alles andere als selbstverständlich. Deutlich wird auch, dass Ego-Dokumente inzwischen vor allem in digitalen Massenmedien große Verbreitung finden können – jedenfalls in Bezug auf einige Ethnien und Nationen weltweit. Zu untersuchen ist insofern auch, wie sich die Überlieferung von „sozialen Ichs” global gewandelt hat und wie die Gleichzeitigkeit alter und Neuer Medien und Medienformate sowie Intermedialität die performative Selbstdarstellung in Form von Ego-Dokumenten prägen.
Im Seminar verbinden wir die theoretische Durchdringung der Quellengattung mit methodischen Fragen zur Analyse konkreter Überlieferungen aus der Geschichte des 20. und 21. Jahrhunderts. Die schon etwas festgefahrene Diskussion um Ego-Dokumente und Selbstzeugnisse wird aktualisiert mit Bezug auf ein Theorieangebot von Michael Rothberg. Mit seinem Konzept der „implicated subjects” schlägt der Literaturwissenschaftler vor, das Handeln von Menschen in ihren jeweiligen politischen Kontexten vielschichtiger als bislang zu untersuchen. Inwiefern löst der neue Ansatz das Versprechen ein, hinauszukommen über das Denken in oft recht einfachen und zugleich hochmoralischen Kategorien wie Opfer, Täter und Mitläufer? Wir können wir als forschende Subjekte die persönliche politische Mitverantwortung von historisch „involvierten” Subjekten auf faire Weise einschätzen? Wir lässt sich das Handeln von Menschen, die ja immer in konkrete Herrschaftsverhältnisse und Positionen der Privilegierung, Hegemonie, Ungleichheit oder Diskrimierung hineingeboren werden, angemessen beschreiben und historisch verstehen?
Literaturempfehlungen: Ego-Dokumente. Annäherung an den Menschen in der Geschichte, hg. von Winfried Schulze, Berlin 1996; Benigna von Krusenstjern, Was sind Selbstzeugnisse? Begriffskritische und quellenkundliche Überlegungen anhand von Beispielen aus dem 17. Jahrhundert, in: Historische Anthropologie (1994), H. 2, S. 462-471; Michael Sauer, Selbstzeugnisse als historische Quellen, in: Geschichte lernen, 26 (2013) H. 156, S. 2-11; Michael Rothberg, The Implicated Subject. Beyond Victims and Perpetrators, Stanford 2019. |