Kommentar |
Mit dem Jahr 1989 verbinden heute viele „den Mauerfall” am 9. November – als erstes und einziges Ereignis. Mit einer solchen extremen Verkürzung wird ein – fraglos wichtiges – Ereignis als Symbol etabliert, dessen geschichtskulturelle und politische Dimensionen unverstanden blieben, würde man sich nicht auch mit den widersprüchlichen Vor- und Nachgeschichten beschäftigen. Es gilt ebenso, nach parallelen sowie alternativen, beinahe „vergessenen” Entwicklungen und Ereignissen zu fragen wie zum Beispiel nach dem 7. Oktober in Ostberlin und in Plauen oder den 9. Oktober in Leipzig. Auch für das Jahr 1990 taugen isolierte Schlagwörter wie „Das Jahr der Anarchie” oder der Beginn der „Baseballschlägerjahre” ebenso wenig für ein reflektiertes Geschichtsbewusstsein.
In diesem Seminar steht darum zunächst die Recherche, Kontextualisierung und quellenkritische Analyse von Dokumenten aus dem letzten Jahr der DDR im Zentrum. Dabei werden neben schriftlichen Überlieferungen auch akustische, fotografische und audio-visuelle Dokumente untersucht. Geübt wird die Einschätzung des Erkenntniswertes ausgewählter Quellen, Quellengattungen und medialer Darstellungen. Für welche historische Fragen sind bestimmte Quellen besonders geeignet? Wo liegen die Grenzen ihrer Erklärungskraft? Im zweiten Schritt werden die Befunde diskutiert – vor dem Stand aktueller populärer Debatten als auch vor dem geschichtswissenschaftlichen Forschungsstand.
Zur Einführung eine wissenschaftliche Quellenedition und drei kunstvolle mediale Montagen: _ Dokumente zur Deutschlandpolitik. Deutsche Einheit. Sonderedition aus den Akten des Bundeskanzleramtes 1989/90, hg. vom Bundesministerium des Innern, München 1998. _ Das Jahr 1990 freilegen, hg. von Jan Wenzel u.a., Leipzig 2020 _ Novembertage: Stimme und Wege. Ein Film von Marcel Ophüls, BRD, CH, F 1990. _ Stille Helden siegen selten: Leipzig zwischen Wut und Wahlen. Ein Radio-Feature von Karl-Heinz Schmidt-Lauzemis und Ralph Oehme, hr/SFB/Sachsen Radio 1990. |