Kommentar |
Der Fokus der Diskussion um den europäischen Kolonialismus liegt in den letzten Jahren stark auf den Fragen kolonialer, möglicherweise genozidaler Gewalt, kolonialeuropäischen Perspektiven auf außereuropäische Kulturen und Gesellschaften, kolonialem Sammlungsgut in Europa und geschichtspolitischen Konflikten um koloniale Erinnerungskulturen. Etwas zurückgetreten sind dabei Rolle und Funktion von Kolonialbewegung und Kolonialpolitik innerhalb der europäischen Gesellschaften, die in der früheren geschichtswissenschaftlichen Beschäftigung mit dem Kolonialismus – etwa im Zeichen der Thesen vom „Sozialimperialismus“ und vom „Primat der Innenpolitik“ – starke Beachtung gefunden haben.
Das Hauptseminar stellt diese Rolle für das Deutsche Kaiserreich in den Mittelpunkt und führt damit auf verschiedene Felder sozialer Praxis in der deutschen Gesellschaft zwischen Reichsgründung und Erstem Weltkrieg: Die Organisationen der Kolonialbewegung versuchten – nicht zuletzt durch eine Vielzahl von „Kolonialausstellungen“ – Kolonialismus und Kolonialpolitik zu popularisieren; unterschiedliche Stränge der Kolonialkritik entfalteten sich; Kolonialskandale fanden breite Resonanz in der parlamentarischen und publizistischen Öffentlichkeit; die deutsche Sozialdemokratie rang – wie auch andere sozialistische Parteien Europas – um eigenständige Ansätze in der Kolonialpolitik; die sich formierende Missionswissenschaft versuchte die Praxis christlicher Mission im kolonialen Kontext zu begründen und zu reflektieren. Diesen Problembereichen wendet sich das Seminar auf der Grundlage von Forschungsliteratur und zeitgenössischen Quellen zu.
Literaturauswahl: Markus Oberlack, „Zwischen Internationalismus und Eurozentrismus“. Die deutsche Sozialdemokratie und das Problem einer „humanen Kolonialpolitik“, in: Horst Gründer (Hrsg.), Geschichte und Humanität, 2. Aufl., Münster/Hamburg 1994, S. 49-60; Robert Debusmann/János Riesz (Hrsg.), Kolonialausstellungen – Begegnungen mit Afrika?, Frankfurt a. M. 1995; Mariano Delgado, Kolonialismusbegründung und Kolonialismuskritik. Der Januskopf Europas gegenüber der außereuropäischen Welt, in: Mariano Delgado/Matthias Lutz-Bachmann (Hrsg.), Herausforderung Europa. Wege zu einer europäischen Identität, München 1995, S. 153-170; Maria-Theresia Schwarz, „Je weniger Afrika, desto besser“ – die deutsche Kolonialkritik am Ende des 19. Jahrhunderts. Eine Untersuchung zur kolonialen Haltung von Linksliberalismus und Sozialdemokratie, Frankfurt am Main u. a. 1999; Horst Gründer, Indianer, Afrikaner und Südseebewohner in Europa. Zur Vorgeschichte der Völkerschauen und Kolonialausstellungen, in: Jahrbuch für europäische Überseegeschichte 3 (2003), S. 65-88; Benedikt Stuchtey, Die europäische Expansion und ihre Feinde. Kolonialismuskritik vom 18. bis in das 20. Jahrhundert, München 2010; Rebekka Habermas, Protest im Reichstag. Kolonialskandale in der politischen Kultur des deutschen Kaiserreichs, in: Michaela Fenske (Hrsg.), Alltag als Politik – Politik im Alltag. Dimensionen des Politischen in Vergangenheit und Gegenwart. Ein Lesebuch für Carola Lipp, Berlin/Münster 2010, S. 281-303; Ulrich van der Heyden, Antikolonialismus und Kolonialismuskritik in Deutschland, in: Marianne Bechhaus-Gerst/Joachim Zeller (Hrsg.), Deutschland postkolonial? Die Gegenwart der imperialen Vergangenheit, Berlin 2018, S. 143-158; Josef Estermann, Befreiung oder Unterdrückung? Mission und Theologie in der wechselvollen Geschichte von Kolonialismus und Dekolonisation, Zürich/Münster 2019. |