Zeugenschaft ist eine zentrale soziale Wissenspraxis. Denn den Großteil unseres Wissens gewinnen wir nicht aus der eigenen sinnlichen Erfahrung, Erinnerung oder Denktätigkeit, sondern aus der Kommunikation mit anderen. Dies stellt für die Soziologie keinen neuen oder gar überraschenden Befund dar. Gerade die ‚kommunikative Konstruktion der Wirklichkeit‘ (Hubert Knoblauch) und die damit zusammenhängende epistemische Abhängigkeit von anderen werden aus einer wissenssoziologischen Perspektive schon seit Peter L. Bergers und Thomas Luckmanns Klassiker ‚Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit‘ betont. Doch das Phänomen der Zeugenschaft hat bisher kaum Eingang in die Soziologie gefunden und bleibt damit – in seinen verschiedenen Dimensionen – der Erforschung durch die Philosophie, Geschichts-, Kulturwissenschaften vorbehalten.
So werden gegenwärtig in der Philosophie nicht mehr allein Fragen nach dem epistemischen Status eines solchen Wissens aus den Worten anderer diskutiert, sondern vermehrt Fragen nach der ethischen und politischen Dimension der Zeugenschaft. Insbesondere die interdisziplinäre und nicht allein theoretische Auseinandersetzung mit dem Phänomen der personalen (Augen-)Zeugenschaft bzw. den (literarischen und künstlerischen) Zeugnissen von Überlebenden genozidaler und entgrenzter Gewalt im 20. und 21. Jahrhundert lassen dem Begriff der Zeugenschaft heute eine enorme Beachtung zukommen. ‚Ethik und Episteme‘ (Sibylle Schmidt) sind keine getrennten Untersuchungsfelder mehr.
Bisher scheinen Soziolog_innen jedoch wenig Interesse zu haben, sich mit dem Phänomen der Zeugenschaft zu beschäftigen. Doch gerade Fragen nach der sozialen Ausgestaltung testimonialer Figurationen, den sozialen Hintergrundvoraussetzungen für (nicht) gelingende Zeugenschaft oder die Relevanz konkreter Formen/Typen von Zeug_innen für die Ausgestaltung kollektiv geteilter Wissensbestände machen deutlich, das Zeugenschaft auch ein soziales Phänomen und eine basale und außeralltägliche kulturelle Praxis in (spät-)modernen Gesellschaften darstellt.
Ziel des Seminars ist es, diesen unterschiedlichen Strängen der Bestimmung und Beforschung von Zeugenschaft nachzugehen und sie miteinander ins Gespräch zu bringen. Dabei steht die Frage nach dem sozialen Charakter testimonialer Praktiken im Zentrum. Hierfür werden aktuelle Debatten aus Philosophie, Geschichts- und Kulturwissenschaften aufgenommen und auf deren soziologischen Erklärungswert hin untersucht. |