Gegen Ende des 18. Jahrhunderts begann Russland damit, systematisch den Kaukasus zu erobern. Diese Eroberung hat ihren Niederschlag auch in der Literatur gefunden. Im Anschluss an Aleksandr Puskins Versepos Kavkazskij plennik [Der Gefangene im Kaukasus] entstand eine ganze Reihe epigonaler Texte, die den Kampf Russlands gegen die Bergvölker trivialisierten. Dagegen wandte sich Lev Nikolaevic Tolstoj (1828-1910), der den Krieg aus eigener Erfahrung kannte. Er diente ab 1851 im Kaukasus und anschließend im Krimkrieg. Diese Erfahrungen bearbeitete er in seinen frühen Erzählungen aus dem Kaukasus sowie in den Sevastopol’skie rasskazy [Sewastopoler Erzählungen], die 1855 erschienen. Im selben Jahr kehrte er auf das elterliche Gut Jasnaja Poljana zurück, wo er in den 1860er Jahren seinen großen historischen Roman Vojna i mir [Krieg und Frieden] schrieb. Nicht zuletzt aufgrund seiner Kriegserfahrungen und seiner intensiven Beschäftigung mit dem Krieg war Tolstoj ein überzeugter Pazifist. Diese Haltung findet insbesondere in seiner postum veröffentlichten Erzählung zu den Kaukasuskriegen Hadzi-Murat [Hadschi-Murat] sowie in seiner „Rede gegen den Krieg” ihren Ausdruck.
In diesem Seminar werden wir uns angesichts der Kriege im Kaukasus in den vergangenen Jahrzehnten und des russischen Angriffs auf die Ukraine vom 24. Februar 2022 mit den Kriegen im Kaukasus im 19. Jahrhundert auseinandersetzen, und zwar sowohl aus historischer Perspektive als auch vermittels der literarischen Repräsentationen. Aus diesem Grund werden uns in diesem Seminar auch grundsätzliche Überlegungen zum Verhältnis von Geschichte und Literatur beschäftigen. Darüber hinaus werden wir den Film Kavkazskij plennik [Gefangen im Kaukasus] aus dem Jahre 1996 thematisieren, der mit dem Text von Tolstojs Erzählung „Der Gefangene im Kaukasus” arbeitet und ihn in den damals aktuellen Tschetschenienkrieg überträgt.
Russischkenntnisse sind willkommen, für die Teilnahme am Seminar aber keine Voraussetzung. |