Kommentar |
Auf Spurensuche nach Historikerinnen förderte Natalie Zemon Davis in den 1980er Jahren Irritierendes zutage. Entgegen der Annahme, in der Geschichtsschreibung fänden sich vor dem 20. Jahrhundert keine Autorinnen, wurde sie bereits in der Zeit um 1400 fündig. Im 19. Jahrhundert verwissenschaftlichte sich die Geschichtsschreibung. Dieser Prozess ist von den politischen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen und Entwicklungen in diesem Zeitraum nicht zu trennen. So waren Handlungsräume für wissenschaftliches Arbeiten von Frauen eng begrenzt. Während die männlichen Geschichtsschreiber an den Universitäten mit Karriereförderung, Studierenden- und Sprachausbildung, mit Bibliotheken, Archiven und Fachzeitschriften mit mächtigen Instrumenten handelten, war Frauen der Zugang mit wenigen Ausnahmen verwehrt. Diese Konstellationen wie auch die Selbstbilder der Historikerschaft, mit denen spezifische Vorstellungen von Männlichkeiten und binäre Denkmodelle als „wissenschaftlich” deklariert wurden, wirkten sich auf die Themen sowie die Art und Weise der Geschichtsschreibung aus.
Im Seminar werden wir die Zuschreibungen, Konstruktionen und Konsequenzen in der Historiographie an ausgewählten Texten nachverfolgen, analysieren und mit zusätzlicher Forschungsliteratur erschließen. Anhand von Beispielen diskutieren wir methodische Instrumentarien mit dem Ziel einer Historiographie, die Geschlechterkonstruktionen sowie deren Relationen analytisch reflektiert und traditionale symbolische Ordnungen in Frage stellt und überwinden kann.
Literatur zur Einführung: Barbara Stollberg-Rilinger: Väter der Frauengeschichte? Das Geschlecht als historiographische Kategorie im 18. und 19. Jahrhundert, in: HZ 262 (1996), S. 39-71; Karen Hagemann/Jean H. Quataert (Hg.): Geschichte und Geschlechter. Revisionen der neueren deutschen Geschichte, Frankfurt am Main/New York 2008; Claudia Opitz-Belakhal: Geschlechtergeschichte. Frankfurt am Main/New York 2010; Muriel González Athenas, Falko Schnicke (Hrsg.): Popularisierungen von Geschlechterwissen seit der Frühen Neuzeit. Konzepte und Analysen, Berlin, Boston 2020; Andreas Neumann: Gelehrsamkeit und Geschlecht. Das Frauenstudium zwischen deutscher Universitätsidee und bürgerlicher Geschlechterordnung (1865–1918), Stuttgart 2022. |