Kommentar |
Wer ist eigentlich (k)ein Fremder, (k)eine Fremde? Wer hat, und unter welchen Bedingungen, wo, das Recht, Gast zu sein, gar: zu bleiben? Und was bleibt, wenn die andere, der andere, das andere zur/m Fremden wird und zum Gast, von ihr oder ihm auf der Schwelle und vielleicht zurück?
If it is true, as Derrida reminds us, reading Kant, that »one must never turn away a foreigner, if this can lead to his or her loss«, then it’s putting it mildly to say that, everywhere in the world, in Europe just as well as the United States, democracies will have failed to act in accordance with this duty”, formuliert Marc Crépon in einem kürzlich erschienenen Aufsatz über die ”unconditional condition of peace.”
Obwohl Derrida mit Kant auch daran erinnert, dass der oder die Fremde nicht feindlich behandelt werden darf, so weist er doch dessen Konzeption einer Allgemeinen Hospitalität als unzureichend aus. Die Gastlichkeit, wie Kant sie versteht, würde sich an den anderen oder die andere lediglich als Fremde:n richten, das heißt unter der Bedingung, dass ihre oder seine Andersheit gleichsam auf der Schwelle und zurückbleibt. Eine Gastfreundschaft, wie sie von der Tradition und exemplarisch von Platon in der Apologie des Sokrates vorgeführt und von Kant in seiner Schrift Zum Ewigen Friedenvorgestellt wird, würde ausgerechnet ihre Gastlichkeit der/dem anderen vorenthalten. Die Gastfreundschaft, die dadurch wirksam wird, dass eine Grenze geöffnet oder überschritten wird, würde, so lautet die kritische Analyse Derridas weiter, sich ihrerseits, das heißt selbst begrenzen – sie wäre zu gastlich ihrem Gegenteil zugewandt („this hospitality is too hospitable to it´s opposite”) und eröffnete so gerade, was sie auszuschließen vorgibt, nämlich die Möglichkeit, den anderen, die andere als Feind zu behandeln.
Was, oder besser, wer ist eigentlich ein Fremder, eine Fremde? In Relation worauf bestimmt sich deren oder dessen Fremdheit? Wie lassen sich Fremdheit und Andersheit voneinander unterscheiden? Welche Paradoxien und Aporien der Gastlichkeit deckt Derrida in den Texten der Tradition auf, und was – oder wer – gibt sich, folgen wir Derrida, kraft dieser Widersprüche zu denken?
Folgen wir in diesem Semester also ein wenig Derrida, und lesen wir, in einer Weise, so offen und gast(freundschaft)lich wie möglich, ebenso seine Überlegungen zu einer »unbedingten Gastfreundschaft« wie Auszüge der Texte (Platon, Kant), aus denen diese sich, kraft einer dekonstruktiv-kritischen Lektüre, entwickelt.
Derridas Seminar über Hospitalité, das er 1995-96 an École de hautes études en sciences in Paris gehalten hat, ist inzwischen in einem ersten von zwei Bänden in englischer Übersetzung erschienen. Sie wird in Moodle zur Verfügung gestellt. Wir werden diesen Band in Auszügen zusammen lesen und besprechen. Weil es noch keine Übersetzung ins Deutsche gibt, gehört zu den Voraussetzungen des Seminars die Bereitschaft zur Lektüre englischsprachiger Texte. Das ist durchaus herausfordernd, und doch bitte ich alle Interessierte, sich davon nicht abschrecken zu lassen. Sobald man sich einmal auf den »Beat« des Textes eingestimmt hat, wird dieser, meiner Erfahrung nach, auch zugänglich, ohne dass man – und das fällt selbst in der deutschen Übersetzung schwer – tatsächlich Satz für Satz, Wort für Wort verstehen muss. Zur Unterstützung kann die Übersetzung zweier Sitzungen, die im Passagenverlag unter dem Titel Über die Gastfreundschafterschienen sind, mit herangezogen werden. Die Anschaffung einer Ausgabe von Kants Text Zum ewigen Frieden und Platons Apologie des Sokrates wird – gerne auch in der kostengünstigen Reclam-Ausgabe – empfohlen.
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