Hinweis: Die erste Sitzung am 2. April findet über Zoom statt, alle weiteren Sitzungen in Präsenz:
https://uni-jena-de.zoom-x.de/j/68240121166
Die Mathematik gilt seit ihrer Erfundung als die wissenschaftlichste Wissenschaft - nur die Philosophie versuchte sie bisweilen zu überbieten.
Womit es die Mathematik aber zu tun hat, das zu klären ist eine ebenso reizvolle wie schwierige Aufgabe: Wir zeichnen Figuren, aber gemeint ist doch etwas Außerzeitliches und Ewiges - wir schreiben Ziffern, aber die Zahlen selbst scheinen etwas nicht sinnlich Wahrnehmbares und eben Ewiges zu sein. Drei Antwortversuche:
Platon: Mathematik, d.h. genauer Geometrie ist der Weg vom Wahrnehmbaren zum nicht Wahrnehmbaren. Wenn wir das üben, dann bereiten wir uns auf die eigentliche Aufgabe, nämlich die Erkenntnis der Ideen vor, die gar nicht wahrnehmbar sind. Mathematik ist daher eine Vorübung zur Dialektik, oder Philosophie. Ob mathematische Gebilde wirklich "Ideen" sind, ist bei Platon nicht eindeutig ausgesprochen. - In der Folgezeit entwickelt sich jedoch der Platonismus, der die Zahlen und geometrischen Figuren in einem Ideenhimmel ansiedelt und als ewige Gebilde deutet, die wir entdecken können, die aber an sich existieren und unabhängig von allem sind.
Kant: Mathematik ist tatsächlich nicht reine Logik und nicht reines Denken, sondern in der Mathematik haben wir es mit der "reinen Anschauung" zu tun: Die bloße Form des Räumlichen, eben das Nebeneinander und die bloße Form des Zeitlichen, eben das Nacheinander - das sind die Grundlagen von Geometrie und Arithmetik (Zahlenkunde). Mathematik ist daher grundsätzlich anschaulich, auch dort, wo Beweise geführt werden: Sie ist synthetisch a priori. Der Grund der Mathematik ist nach Kant die reine Subjektivität - einen objektiven, absoluten Ideenhimmel verwirft Kant entschlossen.
Wittgenstein: Der frühe Wittgenstein (um 1918) versteht die Mathematik als von gleicher Art wie die Logik: Wir ersetzen Gleichungen durch äquivalente Gleichungen. Die einzige Anschauung, die wir benötigen, ist die Vertrautheit mit der Formelsprache, die wr dabei verwenden. Mathematische Gebilde haben keine eigene Existenz, weil sie analytische, Tautologien ähnliche Geilde sind und keinerlei Gehalt aufweisen. Die gesamte Mathematik entwickelt nur die egeln unseres Notationssystems - da aber Notationssysteme nicht vollständig beliebig eingerichtet werden können, spiegelt sich in den Gleichungen der Mathematik trotzdem die Struktur unserer Welt und Wirklichkeit.
Der spätere Wittgenstein (seit 1936) betrachtet Mathematik als ein von Menschen mit und für andere Menschen gespieltes und eingerichtetes Sprachspiel: Die mathematische Notwendigkeit entspringt der unbarmherzig in allen Schulen der Welt eingeübten Zahlenreihe - andere Reihen wären durchaus möglich, werden aber aus letzlich pragmatischen Gründen nicht gelehrt und eingeübt. Die Mathematiker sind daher nicht Entdecker eines platonischen Himmels oder einer transzendentalen Subjektivität - sondern sie sind Erfinder von Sprachspielen, Erfinder von neuen Beweiswegen. Diese radkal menschliche Deutung der Mathematik ist der letzte Ansatz, der im Seminar behandelt werden soll. Vergleiche mit gegenwärtigen formalistischen und platonistishen Ansätzen sind ebenfalls beabsichtigt.
Philosophie der Mathematik - Seminarübersicht (Wir werden versuchen, einigermaßen regelmäßig vorzugehen - aber die Themen sind ungleich schwierig und daher sind hier zunächst keine genauen termine angegeben.)
1 Einführung: Mathematik als Paradigma von Erkenntnis überhaupt – aber wie können wir verstehen, wie es damit zugeht und woher die mathematische Erkenntnis kommt? Ist die Mathematik die Erkenntnis von etwas Höherem (Platonismus) oder beruht die Wahrheit der Mathematik letztlich darauf, dass die Welt mathematisch ist (Empirismus)? Ist die Mathematik letztlich eine freie, von allem Irdischen unabhängige Entwicklung von Begriffen (Dedekind), oder drückt sich darin doch die Form unsere Subjektivität aus (Solipsismus)?
2 Platon: Erkenntnis ohne Belehrung von außen – also muss die Erkenntnis von innen kommen, aus dem früheren Leben vielleicht? Die Geometriestunde im Menon und ihre Deutung.
3 Platon: Niemand ohne Geometrie darf hier rein! Mathematik als Erkenntnis von etwas nicht sinnlich Wahrnehmbaren, die Vorbereitung zur Schau der Ideen (nur für körperlose Seelen möglich) – die „Augen des Geistes” und die Zwischenstation auf dem Weg zur Dialektik in der Politeia (das Liniengleichnis). – Der Platonismus (Mathematik befasst sich mit ewigen „Ideen”) als die erste und scheinbar natürlichste Form einer Philosophie der Mathematik.
4 Hume: Mathematik als Studium der Beziehungen zwischen unseren eigenen Ideen (Vorstellungen, relations of ideas) – Mathematik als Erkenntnis ohne Gegenstand: analytisch a priori. (Kompliziertere Mathematik ist eigentlich a posteriori, weil wir uns ja immer mal verrechnen können und deswegen nie absolut sicher sein können, die Wahrheit auch getroffen zu haben.) – Mathematik ist etwas, was wir selbst machen – aber wie genau?
5 Kant: Die reine Anschauung als die Quelle der Mathematik – die Geometrie befasst sich mit der Form unserer räumlichen Anschauung. Wir selbst sind die Quelle der Geometrie, aber um aus der Quelle zu schöpfen, müssen wir Linien ziehen und Konstruktionen ausführen. Die Beziehungen zwischen unseren „Ideen von Raum und Zeit” liegen nicht einfach in uns, sondern wir müssen sie uns deutlich machen.
6 Kant: Um die Wahrheit von 5+7=12 zu begründen, brauchen wir Dinge, die wir zählen können – z.B. unsere Finger. Bei größeren Zahlen brauchen wir noch mehr Hilfe, etwa die Anschauung, die uns die Symbole, die die Zahlzeichen (und das Positionssystem) vermitteln können. 5+7=12 ist daher nicht analytisch, sondern synthetisch a priori. Mathematik ist in der Form unserer Subjektivität begründet – im „transzendentalen Ich”. Das kann ich für alle machen.
7 Frege: Wir sind beim Umgang mit Zahlen nicht von der Anschauung abhängig, denn die Anschauung könnte ja so oder auch anders ausfallen (was man an der Geometrie sehen kann) – die Arithmetik ist aber so sicher und unbezweifelbar wie die Logik. Wir können die Arithmetik vollständig aus der Logik beweisen, also Schritt für Schritt ableiten – darum ist sie, entgegen der Meinung Kants, doch analytisch a priori (und nur die Geometrie ist synthetisch a priori). Arithmetik ist somit ein Teil der Erkenntnis aus reiner Vernunft – aber ist das nicht wieder eine Form des Platonismus?
8 Früher Wittgenstein: Die Wahrheiten der Mathematik können nicht ausgesagt und behauptet werden – denn dann wäre ja immer eine Gegenbehauptung möglich und die Falschheit zumindest denkbar. Wenn wir die Regeln für die Verwendung der Zeichen bzw. Symbole kennen, dann zeigt sich unmittelbar (und nicht diskursiv vermittelt), welche Gleichungen richtig sind und welche nicht. Mathematik heißt daher: Ausdrücke durch andere Ausdrücke nach Regeln ersetzen. Dazu brachen wir keine Anschauung – außer der Anschauung der mathematischen Symbolik und Sprache.
9 Später Wittgenstein: Die Mathematik ist letztlich ein buntes Gemisch aus Techniken – schon für den sicheren Umgang mit größeren Zahlen brauchen wir außer den Ziffern das Zehnersystem sowie ein Positionssystem (und ggf. den Einsatz von Exponenten) für die Notation der Zahlen. Die Mathematik wird daher (ähnlich wie die Sprache mit ihren Formen) von uns gemacht, erfunden, insbesondere aber immer wieder erweitert – ihre Wahrheiten sind nicht immer schon von Ewigkeit irgendwo da und müssen nur gefunden werden. Es sind nicht die Gedanken Gottes, sondern die menschlichen Rechentechniken, die in allen Schulen auf der Welt weitgehend übereinstimmend so lange unterrichtet und geübt werden, bis wir alle zu übereinstimmenden Resultaten kommen. Wer abweichend rechnet und uns nicht gut erklären kann, wozu das gut ist – wird von der Beteiligung an der Mathematik ausgeschlossen. Mathematik ist eine kollektive menschliche Praxis, die darauf beruht, dass die strenge Einübung von Regelmäßigkeiten nach Regeln fürs Zählen und Messen von Schafen und Erbsen, fürs Landvermessen und vieles andere doch unverzichtbar ist.
10 Ausblick: Wie können wir die Mathematik als kollektive menschliche Aktivität (nach Wittgenstein) mit der mathematischen Notwendigkeit vereinbaren? Gibt es weitere Vorschläge, die Natur der Mathematik zu verstehen? |