Kommentar |
Der Osten Europas spielte für die Geschichtsschreibung des Ersten Weltkrieges bisher kaum eine Rolle. Die Westfront dominierte die Bilder und die Erinnerung an den Krieg in Deutschland, Frankreich oder Großbritannien. Selbst bei unseren östlichen Nachbarn hat dieser „vergessene Weltkrieg“ keinen festen Platz im kollektiven Gedächtnis, wo der Zweite Weltkrieg, die Shoah und die kommunistischen Diktaturen ihre Spuren hinterließen. „Für die Bewohner Ostmitteleuropas ist der Erste Weltkrieg Vorgeschichte ohne Bezug zur Gegenwart“ (Borodziej/Gorny). Dabei war dieser Krieg hier nicht weniger transformativ, nicht weniger gewaltsam oder folgenschwer für die gesellschaftliche Entwicklung im Osten Europas. Von den „Balkankriegen“ der Jahre 1912/3, über die Abnutzungsschlachten der europäischen Landimperien zwischen Baltikum und Karpaten; über den ostmitteleuropäischen Bürgerkrieg vom Ural bis an die Weichsel, bis hin zur gewaltsamen Zwangsumsiedlung von Millionen Menschen zwischen Griechenland und der Türkei im Jahre 1923 durchlebten die Gesellschaften des östlichen Europas den imperialen Zusammenbruch und den Aufbruch ins Zeitalter der Nationalstaaten. Auch hier zeitigte der erste industrielle Massenkrieg furchtbare Folgen, auch hier starben Millionen an Fronten, deren Verläufe sich über Jahre nur langsam veränderten.
Das Seminar bietet einen chronologischen und topographischen Einstieg in die Geschichte dieses Kriegs und diskutiert auf Grundlage übersetzter Quellen Ursachen, Verlauf und Konsequenzen der militärischen Auseinandersetzungen zwischen den vier großen Landimperien zwischen 1912 und 1923. Welche Rolle spielte das imperiale Erbe für die Kriegsführung, welche Bedeutung hatte der radikale Nationalismus für das Schicksal von Minderheiten und Staatsgebilden und wie blieb die Geschichte des Ersten Weltkrieges in Ost und West dennoch miteinander verflochten?
Einführungsliteratur: Wlodzimierz Borodziej/Maciej Gorny: Der vergessene Weltkrieg: Europas Osten, 1912-1923. 2 Bde. Darmstadt 2018; Jochen Böhler u.a. (Hrsg.): Legacies of Violence: Eastern Europe’s First World War. Oldenbourg 2014; Wolfram Dornik u.a. (Hrsg.): Jenseits des Schützengrabens: der Erste Weltkrieg im Osten. Erfahrung, Wahrnehmung, Kontext. Wien 2013. |