Kommentar |
Hoch hinaus wollen wir: auf Dienstreise auf das gräfliche Schloß auf dem Schloßberg und auf Besuch beim Vetter in Hofrat Behrens‘ Lungensanatorium auf dem Zauberberg. Und dann stecken wir fest. Inmitten eines Panoptikums schräger menschlicher Existenzen. Und dann wechseln wir in diesem Menschenzoo die Gitterseite, werden heimgesucht vom Heimgesuchten und suchen nach einem Heim: So ist das Leben. Als Thomas Mann vor einhundert Jahren die Arbeit am Zauberberg abschloß, hatte Kafka bei seinem Tod das Schloß gerade unvollendet liegen lassen. Auf den ersten Blick fallen die enormen Unterschiede zwischen diesen beiden berühmtesten deutschsprachigen Erzähler des 20. Jahrhunderts auf. Aber gerade diese beiden Romane aus den frühen 1920er Jahren zeigen Ähnlichkeiten in Schauplatz-, Figuren- und Handlungsdarstellung, an denen sich sehen läßt, was am Werk dieser beiden Autoren modern ist: die anschauliche Vergegenwärtigung radikaler Skepsis gerade nicht in Großstadtromanen und ohne offensichtliche narratologische Experimente, sondern in der Entrückung von modernen Lebenswirklichkeiten in scheinbar altmodisch realistischem Erzählen. Beide Romane zeigen eine Modernität jenseits avantgardistischer Revolutionen: eine Inszenierung von Normalität als Konglomerat von Widersprüchen: daß sich die Dynamik des Lebens gerade im Feststecken zeigt; daß die Bestimmtheit des Urteilens proportional zur Unsicherheit der Erscheinungen ist; daß das Zelebrieren von menschlich höherem Dasein unwiderstehlichem Triebimpuls entspringt; daß Welterkenntnis nicht darüber hinauskommt, daß Leben das ist, was einem passiert, und Selbsterkenntnis dabei stehen bleiben muß, daß man selbst das ist, was einem zustößt: Daß der Boss im Amboß festsitzt. Vor allem Kafkas unfaßbar immenser Nachruhm beruht auf der Unterstellung von „Deutungsoffenheit” als Lizenz zu larmoyanter Selbstgefälligkeit auf Rezipientenseite: Da fühlen sich die Gebeutelten verstanden. Wir wollen hier aber die Auferstehung des Autors zelebrieren und entdecken, daß und wie Leserschultern in beiden Romanen unbeklopft bleiben. Uns interessiert die Provokation, die beide Werkgipfel auch und gerade als Hundertjährige noch immer sein sollen und sein können. |
Literatur |
Textgrundlage:
Franz KAFKA: Das Schloß. Mit einem Nachw. v. Michael Müller. Ditzingen: Reclam 1923 (= RUB 11430). – € 8,60. ISBN: 978-3-15-014430-5
Thomas MANN: Der Zauberberg. Roman. In der Fassung der Großen kommentierten Frankfurter Ausgabe. Frankfurt a.M.: Fischer Taschenbuch 2012. – € 20,00. ISBN: 978-3-596-90416-7
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