Kommentar |
Bachelor BA_VK 2 (alt), BA_VK 3 B, BA_VK 4 B (alt) Master MVK 1 B, MVK 2 (Sem.), MVK 4 (alt), MVK 4 B (neu), MWVK
„Am Leben zu sein bedeutet, Verluste zu erfahren.“ Judith Schalansky erinnerte in ihrem „Verzeichnis einiger Verluste“ daran, dass diese Erfahrung zu den Grundbedingungen menschlicher Existenz zählt – schon aufgrund des Wissens von der Unhintergehbarkeit des Todes. Verluste von Menschen, von Heimat durch Vertreibung und Verfolgung, das Aussterben von Tieren und Pflanzen und ihr Verschwinden aus dem lebendigen Universum biologischer Vielfalt, Verluste von Arbeitsplätzen, des Glaubens, von Sinn und anderen Gewissheiten, von banalen Gegenständen und geliebten Objekten, die mit ein bisschen Glück im Fundbüro wiedergefunden werden, von Freiheit, sozialem Status, kultureller Identität oder Vielfalt, von Traditionen und Gewohnheiten, Sprachen oder Dia-lekten, Pflanzensorten oder Tierrassen, Gebäuden und Landschaften, Handwer-ken oder Lebensformen, körperlicher Integrität und Selbstbestimmung, von Vertrautheit oder des Gedächtnisses, von Zukunftserwartungen im Zeitalter des Anthropozän…
Das Thema der Vergänglichkeit und des Verschwindens ist unerschöpflich und soll im Seminar in kulturwissenschaftlicher Perspektivierung konkretisiert werden. Erfahrungen von Verlusten und Formen ihrer Bearbeitung unterliegen natürlich spezifischen Zeit-Verhältnissen und historischen Bedingungen. Zeiten intensiver Verlusterfahrungen sind Kriege, historische Brüche und Perioden beschleunigten Wandels wie die Moderne. Verluste, so Andreas Reckwitz in seinen Überlegungen zu einer Soziologie des Verlusts, seien „gewissermaßen das Andere der Moderne, sie sind das Andere des Fortschritts“, also nichts anderes „als komplementäre Begriffe, sie bezeichnen zwei gegensätzliche Zeit- und Bewertungsstrukturen.“ Ganz einfach: Neues setzt den Verlust des Vertrauten voraus; die Entfaltung des Fortschritts die Zerstörung des Alten. Zwei Seiten einer Medaille: Verlust und Gewinn, Erinnern und Vergessen, Verlieren und Finden.
Wie gehen Kulturen mit Destruktion, Verlust und Vergänglichkeit um? Im Seminar geht es um Erfahrungen des Verlusts biologischer und kultureller Vielfalt, um Vergänglichkeit und Trauer, Verschwinden und Verlieren, um die Psychologie des Verlusts sowie seine Vergegenwärtigung und Verdrängung in der Moderne. Im Mittelpunkt stehen kulturelle Formen und Institutionen der Bearbeitung von Verlusten und Kulturtechniken der Verlustvorbeugung, der Konservierung und des Bewahrens als kulturelle Vorratshaltung. Zur Kompensation und Bewältigung des mit Verlusten und dem Zerstörungspotenzial der Moderne einhergehenden „Vertrautheitsschwunds“ (Hermann Lübbe) bilden Gesellschaften und Kulturen Formen und Institutionen der Bearbeitung aus – Riten und Schauplätze des Trauerns und Gedenkens wie Friedhöfe, mündliche und schriftliche Praktiken des Erzählens, Erinnerns und der Dokumentation, Orte und Agenturen des Bewahrens und Erinnerns wie das Museum, Bewegungen des Naturschutzes, der Denkmalpflege, Archive und viele andere Institutionen des kulturellen Gedächtnisses, die das Abwesende präsent halten.
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Literatur |
Einführende Literatur: Sigmund Freud: Trauer und Melancholie, in: Ders.: Gesammelte Werke, Bd. 10: Schriften aus den Jahren 1913–1917, London 1946, S. 428– 446. Judith Scha-lansky: Verzeichnis einiger Verluste, Berlin 2018. Andreas Reckwitz: Verlust und Moderne – eine Kartierung, in: Merkur, Heft 872, Januar 2022, S. 5-21. Andreas Reckwitz: Auf dem Weg zu einer Soziologie des Verlusts, in: Soziopo-lis 2021; https://www.soziopolis.de/auf-dem-weg-zu-einer-soziologie-des-verlusts.html. Utz Jeggle: Verlieren und Finden. Seelen- und sachkundliche Prä-liminarien zur Geschichte von Fundanzeigen und Fundbüros, in: Historische Anthropologie 6 (1998), S. 132–150. Barbara Happe: Der Tod gehört mir: Die Vielfalt der heutigen Bestattungskultur und ihre Ursprünge, Berlin 2012. Franz Mauelshagen: Der Verlust der (bio-)kulturellen Diversität im Anthropozän, in: Wolfgang Haber/Martin Held/Markus Vogt (Hrsg.): Die Welt im Anthropozän. Erkundungen im Spannungsfeld zwischen Ökologie und Humanität, München 2016, S. 39-56.
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