Kommentar |
Bachelor BA_VK 2 (alt), BA_VK 3 B, BA_VK 4 B (alt) Master MVK 1 B, MVK 2 (Sem.), MVK 4 (alt), MVK 4 B (neu), MWVK
Der „ethnographische Blick“ bezeichnet die Perspektive kulturanthropologischer Forschung auf andere, auf fremde Kulturen. Es sind Blicke aus dem Zustand der Befremdung, in dem Vertrautes und Selbstverständliches einer Kultur eben nicht mehr selbstverständlich sind, sondern fragwürdig werden. Dabei handelt es sich in der Regel um eurozentrische, um „unsere“ Blicke auf die „Anderen“. In diesem Seminar verfahren wir umgekehrt: Wie sehen internationale Kulturanthropologen und Kulturanthropologinnen eigentlich auf Deutschland und „typisch deutsche“ Befindlichkeiten? Was stimuliert ihr Interesse, erfahren sie als „merkwürdig“ und identifizieren in Kultur, Alltag oder Lebensweisen in der deutschen Gesellschaft als aufschlussreich oder „typisch“?
Beschreibungen von Deutschland durch die Brille des Fremden stehen seit Tacitus „Germania“ oder Madame de Staëls „De l’Allemagne“ in einer langen Wahrnehmungsgeschichte. Mit Montesquieus „Persischen Briefen“ (1721) entstand die literarische Tradition fiktiver Reiseberichte, in denen Europa im fremden Blick erkundet und zum Gegenstand der Kritik wurde. So etwa bei dem Lebensreformer Hans Paasche, der im Zeitalter des Kolonialismus die gängige Asymmetrie der Beziehungen zwischen Beobachtern und Beobachteten auf den Kopf stellte: Nicht der deutsche Ethnologe inspiziert zu Beginn des 20. Jahrhunderts hier Sitten und Gebräuche der „Wilden“ und „Primitiven“, sondern umgekehrt: Lukanga Mukara, ein junger Ost-Afrikaner, bricht als fiktiver Ethnologe auf zur Expedition ins innerste wilhelminische Deutschland und beschreibt im Zustand des Wunderns und Staunens Alltägliches und Merk-Würdiges unter den dortigen Eingeborenen...
Häufig sind es gesellschaftliche Brüche, die das Interesse an Deutschland und den Deutschen stimulieren und Wellen von Deutschland-Analysen auslösen – der Nationalsozialismus und der Zweite Weltkrieg, die deutsch-deutsche Einigung nach dem Ende der DDR 1990, die Globalisierungsprozesse und Migrationsbewegungen der Gegenwart. Deutsche Alltagskultur im Blick nicht-deutscher Forscher und Forscherinnen war auch die Perspektive von „Inspecting Germany. Internationale Deutschland-Ethnographie der Gegenwart“, wo Befindlichkeiten Interesse fanden, die in der kulturanthropologischen Deutschland-Forschung auch heute noch Brisanz besitzen – Heimat, Familie und Geschlechterbilder, Vergangenheitspolitik und Erinnerungskultur, die Deutschen und ihre Hunde, Grenzen und Differenzen, Ost und West, Rassismus und Fremdenfeindlichkeit, Migration und Einwanderung u. v. a.
Wir erkunden und analysieren mit den Augen der „Anderen“ deutsche Alltage, Menschen und ihre Gesellschaft: Typisch, merkwürdig, absonderlich? Europa und Deutschland im Blick der „Anderen“ und das durch die Umkehrung des kulturanthropologischen Blicks entstehende Spannungsfeld von Fremd- und Selbstanalyse sind Gegenstand des Seminars.
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Literatur |
Einführende Literatur: Hans Paasche: Die Forschungsreise des Afrikaners Lukanga Mukara ins innerste Deutschland (1912/13), Hamburg 1921. Robert Harry Lowie: Toward Under-standing Germany, Chicago 1954. Stefan Hirschauer/Klaus Ammann: Die Befremdung der eigenen Kultur. Zur ethnographischen Herausforderung soziologischer Empirie, Frankfurt a.M. 1997. Thomas Hauschild/Bernd Jürgen Warneken (Hrsg.): Inspecting Germany. Internationale Deutschland-Ethnographie der Gegenwart, Münster 2002. Marcus Hahn/Frederic Ponten (Hrsg.): Deutschland-Analysen (= Zeitschrift für Kulturwissenschaften 2/2020), Bielefeld 2020. Asfa-Wossen Asferate: Deutsch vom Scheitel zur Sohle, Berlin 2023. |